Die Deutung der Ereignisse von Chemnitz führt zu einer zunehmend hitzigen politischen Debatte in Berlin. Am 7. September sorgte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, mit Aussagen in der "Bild"-Zeitung für Wirbel. "Die Skepsis gegenüber den Medienberichten zu rechtsextremistischen Hetzjagden in Chemnitz wird von mir geteilt", sagte Maaßen. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) äußerte sich vorsichtig zustimmend, während der Sprecher von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Steffen Seibert, bei seiner Darstellung blieb. Er hatte nach den ersten Demonstrationen von "Zusammenrottungen" und "Hetzjagden" gesprochen und das wiederholt begründet. Zu dem Thema sei von der Kanzlerin und ihm alles gesagt, erklärte er in Berlin.

Am 26. August war beim Chemnitzer Stadtfest ein 35 Jahre alter Deutsch-Kubaner im Streit erstochen worden. Dringend tatverdächtig sind drei Asylbewerber. Rechte Gruppen instrumentalisierten die Tat für ausländerfeindliche Demonstrationen. Dabei kam es zu Ausschreitungen und laut Polizei auch zu Attacken gegen ausländisch aussehende Personen. Die dafür mitunter verwendeten Begriffe "Hetzjagd" und "Mob" sind allerdings umstritten.

Maaßen sagte, dem Verfassungsschutz lägen "keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben". Über ein Video, das Jagdszenen auf ausländische Menschen nahe dem Johannisplatz in Chemnitz zeigen soll, sagte Maaßen, es lägen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video authentisch ist. "Nach meiner vorsichtigen Bewertung sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken", sagte er.

Vorwurf der Falschinformation nicht belegt

Ausführungen über die "guten Gründe" macht Maaßen nicht. Auch Bundesinnenministerium und Kanzleramt kennen nach eigenem Bekunden keine Details zu Maaßens Äußerungen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz sei um einen Bericht dazu gebeten worden, sagte eine Sprecherin des Innenressorts in Berlin. Gleichzeitig teilte sie mit, dass dem Ministerium aus einem anderen Bericht der vergangenen Tage bekannt gewesen sei, dass es aufgrund von Informationen der Verfassungsschutzes Zweifel daran gibt, die bisherige Bewertung des Demonstrationsgeschehens in Chemnitz zu teilen.

Innenminister Seehofer will nach Worten der Sprecherin erst die Aufklärung abwarten, bevor er eine endgültige Bewertung vornimmt. Seehofer hatte in Interviews Verständnis für die Menschen geäußert, die nach dem gewaltsamen Tod des 35-Jährigen auf die Straße gingen, sich zugleich aber von "Radikalen" distanziert. Nach einem Treffen der Innenminister von CDU und CSU in Wiesbaden sagte er mit Blick auf die Äußerungen von Maaßen: "Mein Informationsstand ist identisch." Zudem sagte er, als Verantwortungsträger müsse man sich "an den Realitäten orientieren".

Seehofer sagte in Wiesbaden außerdem, dass eine Sitzung des Innenausschusses des Bundestages geplant sei. Das sei der richtige Ort, um die Dinge zu besprechen, sagte er.

Grüne und Linke äußerten sich empört darüber, dass Maaßen den Vorwurf der Falschinformation nicht belegt hat. "Wenn Herr Maaßen solche Behauptungen aufstellt, muss er sie zweifelsfrei belegen. Alles andere ist unverantwortlich", sagte der Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Bundestag, Anton Hofreiter, der "tageszeitung".

"Für ein Fake liegen keine Indizien vor"

Es gebe mehr als 120 Ermittlungsverfahren, und auch der Generalbundesanwalt befasse sich mit "Hetzjagden und Neonazi-Krawallen, die durch unterschiedliche Videos und Zeugenaussagen belegt sind", sagte die Linken-Innenpolitikerin Martina Renner. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Benjamin Strasser bezeichnete die Äußerungen von Maaßen als "Mutmaßungen" und Ablenkungsmanöver für andere Debatten über den Verfassungsschutz. Zufrieden äußerte sich AfD-Fraktionschef Alexander Gauland, der Merkels Sprecher Seibert eine "Falschbehauptung" vorwarf.

Der "ARD-Faktenfinder" meldete am 7. September, dass es nach seinen Recherchen keine Hinweise auf eine Fälschung des von Maaßen angezweifelten Videos gibt, das Jagdszenen auf ausländisch aussehende Menschen in Chemnitz zeigt. "Für ein Fake liegen keine Indizien vor", hieß es im Faktencheck-Portal der "Tagesschau". Faktoren wie Ort, Zeit und Wetterverhältnisse stimmten mit denen anderer Videos exakt überein. Das Video sei zuvor noch nicht im Netz aufgetaucht, und Journalisten hätten berichtet, ähnliche Szenen in Chemnitz gesehen zu haben.

Maaßens Äußerungen lösten auch Kritik beim Deutschen Journalisten-Verband aus. Der Begriff "gezielte Falschinformation" sei ein schwerwiegender Vorwurf, der die Medien pauschal unter Manipulationsverdacht stelle, sagte DJV-Hauptgeschäftsführer Kajo Döhring. Maaßen müsse dafür Belege liefern oder seine Äußerungen zurücknehmen.