Tel Aviv (epd). Mit seinen hellgrauen Haaren und dem Bart war Uri Avnery schon von Weitem unverkennbar, wenn er bei Demonstrationen vorneweg marschierte. Bis ins Alter von 94 Jahren war Israels unermüdlichster Kämpfer für den Frieden geistig und körperlich fit. In der Nacht zum 20. August starb er in einem Tel Aviver Krankenhaus an den Folgen eines Gehirnschlags.
Avnery liebte es, Tabus zu brechen, und setzte sich bisweilen auch über Gesetze hinweg. Als erster jüdischer Israeli traf er 1982 noch während des Krieges zwischen Israel und dem Libanon den Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation, Jassir Arafat, in Beirut. "Ein Staat", lautete damals das Ziel der PLO. Avnery hingegen war Zionist. Ihm schwebte die Zweistaatenlösung vor: Israel und Palästina in friedlicher Nachbarschaft.
Als jüngster von zwei Söhnen der Familie Ostermann kam er 1923 zur Welt und erhielt den Vornamen Helmut. "Ich war sehr bewusster Beobachter dessen, was in Deutschland passiert ist", sagte er einmal im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Im Jahr der Machtergreifung Hitlers, 1933, emigrierten die Ostermanns nach Palästina. Sie waren die einzigen der gesamten Familie, die die Nazi-Zeit überlebten.
Im Untergrund
Um Palästina von den britischen Mandatsherren zu befreien und die Juden im Land vor arabischem Terror zu schützen, schloss sich der junge Mann zunächst der radikalen Untergrundbewegung Irgun an. Während des Unabhängigkeitskrieges wechselte er zur Hagana, dem Vorgänger der israelischen Armee.
Seine Kriegserlebnisse verarbeitete er zu einem ersten Buch, das ein Bestseller wurde und Uri Avnery, wie er sich inzwischen nannte, zu einem Volkshelden machte. Der Erfolg irritierte ihn. Er fühlte sich missverstanden und schrieb ein weiteres Buch: "Die Kehrseite der Medaille" erzählt von den Schrecken der blutigen Kämpfe, vom Tod und von der Skrupellosigkeit der Politiker - Dinge, die zum damaligen Zeitpunkt niemand hören wollte.
Zusammen mit Schalom Cohen, einem Kameraden seiner Armee-Einheit, kaufte er das Nachrichtenmagazin "HaOlam HaSe" ("Diese Welt"). Zu seinen Themen gehörten Korruption sowie die Diskriminierung der Sfaradim, der aus arabischen Staaten eingewanderten Juden. Er schrieb über "feige Ja-Sager" rund um den ersten Regierungschef David Ben-Gurion, den er auf einer Titelseite einen "Diktator" nannte. Er trat für die Rechte des palästinensischen Volkes und für Meinungsfreiheit ein. Keine andere israelische Zeitung veröffentlichte weder zuvor noch danach derart provokative Nacktbilder wie "HaOlam HaSe".
Das Wochenblatt polarisierte. Mitte der 70er Jahre entkam Avnery nur knapp einem Messerattentat. Am meisten verhasst war der Chef von "HaOlam HaSe" den Politikern, die von Woche zu Woche mit Verhöhnung oder Entlarvung rechnen mussten. Mit dem "Gesetz gegen die üble Nachrede" sollte das Magazin vom Markt verschwinden. Avnery nahm die Kampfansage an und kandidierte Mitte der 60er Jahre selbst für die Knesset. Dort bliebt er zehn Jahre.
Kontakt zur PLO-Führung
In dieser Zeit soll er keine einzige Sitzung verpasst haben, über 1.000 Reden gehalten und 1.000 Gesetzentwürfe eingebracht haben, unter anderem zur Einführung standesamtlicher Trauungen sowie der Legalisierung von Homosexualität und Abtreibungen. Keine seiner Gesetzesinitiativen erreichte eine Mehrheit. 1981 zog er aus der Knesset wieder aus, um seinen Platz für einen arabischen Parteifreund zu räumen.
Zu dieser Zeit unterhielt er bereits seit Jahren Kontakte zur PLO-Führung, was damals gesetzlich verboten war. "Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft", sagte Avnery Jahrzehnte nach seinem ersten Treffen mit Arafat. "Ich habe immer geglaubt, dass man mit Arafat Frieden machen kann und sollte."
Anfang der 90er Jahre, als Israel und die PLO doch Verhandlungen führten, gründete Avnery die Initiative "Gusch Schalom", den Friedensblock, um auf außerparlamentarischer Bühne Druck auf die politische Führung auszuüben. Er organisierte Demonstrationen und schrieb wöchentlich im Newsletter der Bewegung zu aktuellen Themen.
International wurden ihm dafür höchste Ehren zuteil. 2001 erhielt er mit seiner Frau den "alternativen Nobelpreis", 2003 zusammen mit dem Palästinenser Sari Nusselbeh den Lew-Kopelew-Preis und 2008 die Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationale Liga für Menschenrechte.
Noch Anfang August veröffentlichte er einen ausführliches Essay zum neuen Nationalstaatsgesetz, dem er eine "halbfaschistische Natur" unterstellte. Es zeige, wie dringlich die Debatte darüber sei, "wer wir sind, was wir wollen und wohin wir gehören", schrieb er. Die Hoffnung auf Frieden gab er bis zum Schluss nicht auf: "Man weiß nie, welche Kräfte am Werk sind - auch, wenn es heute so aussieht, als steuerten wir geradewegs auf einen Eisberg zu."