Er ist ein Virtuose, sein Instrument sind die Tänzerinnen und Tänzer. John Neumeier hat das Ballett revolutioniert, erfindet immer wieder neue Formen für die Bühne. In fünf Jahrzehnten choreographierte er rund 160 Ballette, goss sogar Symphonien von Gustav Mahler, die "Matthäuspassion" von Bach und Mozarts "Requiem" in Tanz. Bei allem bleibt sein Hauptziel: "Das, was ich spüre, so zu vermitteln, dass die Menschen berührt sind." Am 24. Februar wird der gebürtige US-Amerikaner 80 Jahre alt.

Seinen Geburtstag erlebe er nicht als Zäsur, sondern als organischen Schritt auf seinem "Weg der Kreativität", so beschreibt Neumeier es dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Ich liebe den Tanz und die Kreativität, die er entstehen lässt. Diese Liebe setzt ungeahnte Kräfte frei."

Mit nur 30 Jahren arbeitet Neumeier 1969 als jüngster Ballettdirektor Deutschlands in Frankfurt am Main. Zuvor hat er seine ersten Choreographien beim Stuttgarter Ballett entwickelt. 1973 schließlich geht er nach Hamburg, wird Ballettdirektor und Chefchoreograph beim Hamburg Ballett, das er zu Weltruhm führt. 1978 gründet er seine eigene Ballettschule, seit 1996 ist er Ballettintendant an der Staatsoper Hamburg.

Wichtig ist ihm die Verbindung zu seiner Tanz-Compagnie. In Frankfurt habe er damals immer am morgendlichen Training teilgenommen, erzählt er. Es sei ihm von Beginn an wichtig gewesen, den Alltag der Tänzerinnen und Tänzer zu teilen. "Ich habe immer gespürt, dass auch die Auftritte in unserem Repertoire das Verhältnis zu meinem Ensemble positiv beeinflussten", erklärt er. "In der Situation der Aufführung waren wir alle gleich - erfuhren dieselbe Verletzlichkeit eines Künstlers im Rampenlicht."

Solange er sich erinnern kann, wollte er Tänzer werden. Seinen ersten Unterricht bekommt er als Kind in seiner Heimatstadt Milwaukee im US-Bundesstaat Wisconsin. Die Ballettlehrjahre verbringt der Kapitänssohn dann in Kopenhagen und London. Doch seine Eltern legen ihm nahe, sein Studium an der heimatlichen Universität zunächst abzuschließen. Er macht also seinen Bachelor of Arts in Englischer Literatur und Theaterwissenschaften.

Für seinen Traum, Tänzer zu werden, hat er sogar geschummelt: Als Neumeier 1962 nach Europa kommt, um seine Ausbildung an der Londoner Royal Ballet School abzuschließen, datiert er kurzerhand sein Geburtsjahr um drei Jahre nach vorn. Er ist zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt, nach seinen Angaben aber erst 20.

"Ich wollte sichergehen, bei der Registrierung nicht abgewiesen zu werden", begründet er später seine Entscheidung. Spontan habe er sich deshalb zur Änderung entschlossen. Lange Zeit bleibt es ein wohl gehütetes Geheimnis.

Seine künstlerische Vorliebe gilt dem großen russischen Tänzer Vaslav Nijinsky (1889-1950). Als 11-Jähriger habe er ein Buch über ihn entdeckt und verstanden, dass die Figuren auf der Bühne echte Menschen seien, sagte Neumeier einmal. Als Choreograph interessieren ihn Gemütslagen und menschliche Beziehungen, mit dem Tanz spürt er dem nach, was mit Worten nicht gesagt werden kann. Dabei ist der Mann mit dem wachen Blick überzeugt: "Man kann nur aus sich selber wirklich ehrlich schöpfen."

Eines seiner Schlüsselwerke ist die Choreographie zu Johann Sebastian Bachs "Matthäuspassion". Die Idee, die Passion zu tanzen, sei zunächst so ungewöhnlich gewesen, dass er mehrere Anläufe unternehmen musste, bis das Ballett 1981 uraufgeführt werden konnte, erinnert er sich. Die Aufführung wurde sowohl in einem Kirchenraum, der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis, als auch in der Hamburger Oper erprobt.

Als Choreograph sei ihm dabei wichtig gewesen, dass "der Tanz als elementare humane Ausdrucksform die Dimension des Glaubens nicht ausschließt", betont Neumeier. Seine "Matthäus-Passion" sei kein missionarisches Werk, sondern bringe jedem einzelnen Zuschauer grundlegende Erfahrungen des Menschseins nahe. Neumeier selbst hat viele Male den Jesus verkörpert. Heute zählt er diese Rolle zu den wichtigsten seiner aktiven Karriere als Tänzer.

Der weltbekannte Choreograph hat außerdem viele klassische Märchen- und Handlungsballette wie "Der Nussknacker", "Romeo und Julia", "Schwanensee" oder "Dornröschen" neu interpretiert. Seinem langjährigen Freund Leonard Bernstein setzt er 1998 mit "Bernstein-Dances" ein Denkmal.

Hamburg ist für Neumeier zur Wahlheimat geworden. Auch privat hat er sein Glück an der Elbe gefunden: 2018 heiratet er seinen langjährigen Lebenspartner, den Hamburger Herzchirurgen Hermann Reichenspurner.

Für seine Arbeit hat er zahllose Preise, Medaillen und das Bundesverdienstkreuz bekommen. Als einer von Wenigen wurde Neumeier schon zu Lebzeiten Ehrenbürger der Stadt Hamburg.

Seinen 80. Geburtstag feiert der Meister gemeinsam mit seinem Hamburger Publikum: In der Oper ist die autobiografisch inspirierte Ballettgala "The World of John Neumeier" zu erleben. Der Choreograph selbst will auf der Bühne stehen und durch das Programm führen. Versprochen sind Schlüsselszenen seiner erfolgreichen Ballette wie "Nussknacker", "Die Kameliendame" und "Matthäuspassion".

Ob für ihn als Choreographen noch Wünsche offen sind, verrät er nicht. Aber so viel dann doch: "Ich bräuchte ein zweites Leben als Choreograph, um alle Ideen für neue Ballette in die Tat umzusetzen, die in meinem Kopf angelegt sind."