Nach Ansicht des evangelischen Theologen Jürgen Moltmann (Tübingen) hat sich die Theologie an der Universität von der Praxis losgelöst. Viele Dozenten an der Universität waren oft noch nie selbst in einer Kirchengemeinde tätig, sagte der emeritierte Theologieprofessor für Systematik und Sozialethik am 22. Januar dem Evangelischen Pressedienst (epd). Dabei wäre Gemeindeerfahrung für die Dozenten wünschenswert. Denn die Studenten, die in den Seminaren und Hörsälen sitzen, wollten meist Pfarrer werden und müssten auf die Praxis in der Gemeinde vorbereitet werden.

In seinem neuen Buch "Christliche Erneuerungen in schwierigen Zeiten" (Claudius-Verlag, München) kritisiert Moltmann eine "Dialoginflation". "Wir leben in einer Post-Wahrheitsära. Das zeigen auch die Fake-News und die Talkshows, in denen es nicht um ein Ringen um Wahrheit geht, sondern darum, möglichst viel Redezeit zu bekommen", sagte er dem epd. Viele seiner jüngeren Kollegen führten mit allen Dialog, um die Gemeinschaft zu fördern, aber nicht die Wahrheit. "Doch warum geht nicht Wahrheit und Gemeinschaft zusammen?" Streit könne produktiv sein - wenn er sich in gesitteten Bahnen abspielt und sich nicht in Beleidigungen äußert.

"Täterorientiert"

Mit Blick auf die Ökumene wird laut Moltmann die Frage des gemeinsamen Abendmahls wesentlich bleiben. Er schlägt vor, erst einmal gemeinsam an einem Tisch zusammenzukommen, das Abendmahl zu feiern und dann anschließend über die Theorie des Abendmahls zu reden: "Dann könnte sich zeigen, dass es gar keine Hindernisse mehr gibt, auch in Zukunft gemeinsam Brot und Wein zu teilen."

Der 92-Jährige prangerte auch die Fälle von sexuellem Missbrauch in den Kirchen an. Bereits seit 20 Jahren habe er auf die Opfer hingewiesen und keiner habe das aufgenommen. Die Gnadenlehre der christlichen Kirchen und die Rechtfertigungslehre der reformatorischen Kirchen sei zu täterorientiert: "Die Sünder sollen Buße tun und gerechtfertigt werden und die Opfer der Sünde sind nicht im Blick." Doch es müsse beides geben: Die Befreiung der Unterdrückten, Missbrauchten und Marginalisierten ebenso wie die Befreiung der Unterdrücker, Herren und Mächtigen, so der Theologe, dessen "Theologie der Hoffnung" international beachtet wurde.