Nairobi/Abuja (epd). Die Abschlussschülerinnen des Internats in der nigerianischen Kleinstadt Chibok schliefen, als die Islamisten von Boko Haram in die Schule einbrachen. Es war die Nacht vom 14. auf den 15. April 2014 - und Prüfungszeit. Die jüngeren Kinder waren vor Wochen nach Hause geschickt worden, zu unsicher war die Gegend. Entführungen und Angriffe durch die Terrorgruppe mit Hunderten Toten hatten Familien in Angst und Schrecken versetzt.

Als Soldaten verkleidet griffen die Terroristen den überwiegend christlichen Ort im Norden Nigerias an, brannten Häuser nieder, überfielen die Mädchenschule. 276 Schülerinnen zwangen sie in Autos und auf Lkw und brachten sie weg. Wohin genau, weiß keiner, Boko Haram hat befestigte Lager in Wäldern und Bergen in der Region. Über die Jahre konnten viele der Mädchen entkommen, andere wurden gerettet, doch bis heute werden mehr als 90 junge Frauen vermisst. Mittlerweile sind sie Ende 20.

2022 ehemalige Schülerin gefunden

Wenige Tage nach der Entführung starteten Frauen in Nigeria und aus der nigerianischen Diaspora im Ausland die Kampagne „Bring back our girls“ („Bringt unsere Mädchen zurück“). Weltweit sollte mit Demonstrationen Druck auf die nigerianische Regierung aufgebaut werden. Der damalige Präsident Muhamadu Buhari erklärte 2015, Boko Haram sei erst dann besiegt, wenn alle entführten Mädchen befreit sind. Zuletzt fand die Armee 2022 auf Patrouille eine ehemalige Schülerin mit ihrem Kind.

Die Geschichte der Entführungen in Nigeria beginnt Ende der 1990er Jahre im Niger Delta. Dort hatten Konzerne seit den 70er Jahren in großem Stil Erdöl gefördert, ohne Rücksicht auf die Umwelt oder die Anwohner. Bewaffnete Widerstandsgruppen fingen an, internationale Mitarbeiter zu verschleppen. Erst um ihre politischen Forderungen durchzusetzen - bald aber auch, um Lösegeld zu erpressen.

Islamistische Gruppen im Norden des Landes übernahmen die Taktik. Seit der Entführung der Chibok-Schülerinnen sind Geiselnahmen zum Geschäftsmodell geworden, ganz ohne jeglichen ideologischen Hintergrund. Gangs haben sich darauf spezialisiert, Reisende entlang verlassener Autobahnabschnitte zu verschleppen.

„Systematische Regierungskrise in Nigeria“

„Daran zeigt sich die systematische Regierungskrise in Nigeria“, sagt der Politikwissenschaftler Shola Omotola, der an der Universität von Oye-Ekiti im Südwesten des Landes lehrt. Er hat ein Buch über die Kommerzialisierung von Entführungen geschrieben und ist sich sicher: Auch wenn die Regierung sich gegen Lösegeldzahlungen ausspricht, um Entführer nicht weiter zu ermutigen, zahlt sie doch immer wieder.

4.427 Menschen wurden laut einer Analyse der Beratungsagentur SB Morgen allein bei Massenentführungen 2023 verschleppt. Von einer Entführungs-Epidemie sprechen Fachleute. Sie gehen davon aus, dass die Zahlen tatsächlich weit höher liegen und die Polizei oft gar nicht eingeschaltet wird. Zudem werden die Sicherheitskräfte immer wieder beschuldigt, selbst davon zu profitieren und bei Lösegeldzahlungen einen Teil der Summe zu behalten. Amnesty International rief Präsident Bola Tinubu auf, Entführungen als nationalen Notstand zu begreifen.

Anfang des Jahres nahm in der Hauptstadt Abuja eine Entführungs-Sondereinheit der Polizei ihre Arbeit auf. Doch Sicherheitskräfte allein werden die Situation nicht lösen.

Staat vielerorts nicht präsent

Damit sich die Situation langfristig verbessern kann, müsse die Lücke zwischen der „Nachfrage nach Demokratie“ und dem „Angebot an Demokratie“ geschlossen werden, sagt Omotola. In den 1980er und 90er Jahren hätten westliche Länder auf dem afrikanischen Kontinent die liberale Demokratie als Allheilmittel verkauft, mit großen Erwartungen an soziale Sicherheit und Wirtschaftswachstum. In Nigeria aber herrschten Armut, Arbeitslosigkeit, Inflation und Korruption.

Statt einem funktionierenden Sozialsystem gebe es vor allem viele „unregierte Bereiche“, in denen der Staat kaum präsent sei, erläutert Omotola. Jungen Menschen fehle es an Perspektiven und Möglichkeiten, ein Einkommen zu erwirtschaften. Solange das so ist, wird Boko Haram weiter Kämpfer rekrutieren und Kinder und Frauen verschleppen können.