Gambach (epd). Heidrun holt aus dem Nebenraum Wasser und Apfelsaftschorle, die anderen packen schon mal Notenständer und Instrumente aus. Der kleine Posaunenchor der evangelischen Kirchengemeinde im hessischen Gambach probt immer montags. Die Mitglieder lachen und scherzen, sie machen seit vielen Jahren zusammen Musik. „Anfangs sind zwar nicht gleich Freundschaften entstanden“, sagt Heidrun, „aber inzwischen sind wir zu Freunden geworden. Wir treffen uns auch außerhalb des Chores, laden uns gegenseitig ein.“
Sich regelmäßig sehen, die gemeinsame Liebe zur Musik pflegen, über die kleinen und großen Sorgen des Alltags reden - ein Chor ist ein guter Ort, um Freunde zu finden. Doch heutzutage hätten viele Menschen Schwierigkeiten, echte Freundschaften aufzubauen, sagt die Frankfurter Psychologin Ruth Habermehl, die Workshops und Kurse zum Thema gibt - und selbst in einem Chor singt.
Früher gemeinschaftlich, heute allein
Einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov aus dem Jahr 2019 zufolge sagten 40 Prozent der Deutschen, dass sie nur ein bis zwei enge Freunde hätten. Elf Prozent gaben an, sie hätten gar keine. Um den Wert der Freundschaft - zwischen Menschen, aber auch zwischen Kulturen und Ländern - zu stärken, haben die Vereinten Nationen im Jahr 2011 den 30. Juli zum Internationalen Tag der Freundschaft ausgerufen.
„Ein großes Problem ist, dass man sich nicht die Zeit für Freunde nimmt“, erklärt Habermehl. „Wir machen Dinge, die Menschen früher gemeinschaftlich taten, heute allein, Kochen zum Beispiel oder Gärtnern.“ Natürlich sei nicht jeder ein Herzensfreund geworden, der mit auf dem Feld gearbeitet habe. „Aber die Wahrscheinlichkeit war größer, jemanden zu treffen, mit dem man eine größere Bandbreite an Themen teilt.“
Die Psychologin rät, sich diese Lebensweise wieder ein Stück zurückzuerobern: Leute zum Beispiel nicht nur zum Essen nach Hause einladen, sondern vorher schon zusammen kochen. Im Gemeinschaftsgarten gärtnern, mit den Nachbarn die Gartengeräte austauschen.
Die US-amerikanische Theologin Jennie Allen schlägt vor, eine Liste anzulegen mit Menschen aus der Gemeinde, der Uni, dem Job oder der Nachbarschaft: „Mit wem von ihnen bist du gern zusammen? Wer von ihnen scheint echtes Interesse an dir zu haben?“ Da alle rund um die Uhr beschäftigt seien, fordert sie in ihrem Buch „Gemeinsam“ dazu auf: „Sei du die Person, die auf andere zugeht, auch wenn es sich unangenehm anfühlt oder dir peinlich ist.“ Man müsse schon aus seiner Komfortzone raus, empfiehlt auch Habermehl.
„Freundschaften beruhen auf Freiheit“
Nicht nur die Älteren finden schwer Freunde, wie etwa Diskussionen auf Twitter zeigen. „Jeder hat schon gefühlt seinen Freundeskreis, und wenn man irgendwo neu hinzieht, ist es wirklich so schwer, Anschluss zu finden“, schreibt Nutzer „Marius“ in einem Tweet. Als Antworten kommen Vorschläge wie Konzertbegleitungen, Mitgliedschaft im Sportverein und die Dating-App Bumble.
Die evangelische Theologin Margot Käßmann rät beim Thema Freundschaften über das Internet eher zu Nachbarschaftsnetzwerken wie „nebenan.de“ oder „nachbarschaft.net“. „Echte Freundschaft kann nur durch Begegnung, gemeinsames Erleben, Gespräche, ein wechselseitiges Herantasten entstehen“, bemerkt Käßmann in ihrem Buch „Freundschaft“.
In einer Phase großer Verlassenheit suchte der Schriftsteller Daniel Schreiber - ausgerechnet - die Einsamkeit. Er zog für eine Weile auf die Kanareninsel Fuerteventura, wanderte die Küste entlang, mit Blick auf die stürmische See, machte nachmittags Yoga, hielt zu seinen Freunden losen Kontakt über E-Mails und Social Media. „Erst hier wurde mir klar, dass ich die vielleicht einzige Grundregel der Freundschaft missachtet hatte“, schreibt er im Buch „Allein“: Freundschaften beruhten auf Freiheit. „Freundinnen und Freunde müssen den eigenen Wünschen, Erwartungen und Ansprüchen nicht entsprechen, man muss ihnen nichts abverlangen.“
Sich selbst zurücknehmen, den Blick auf den anderen und die andere richten: In Gambach probt der kleine Posaunenchor ein Stück aus dem Film „Herr der Ringe“. Weil sie so wenige seien, dürfe man die Treffen nicht schwänzen, erzählt Werner. „Man kann die anderen nicht im Stich lassen.“ Das bedeutet Freundschaft.