Osnabrück (epd). Der Osnabrücker Friedensforscher Ulrich Schneckener hat die Politik in Deutschland aufgefordert, die Gesellschaft auf eine Aufnahme von Flüchtlingen aus Afghanistan vorzubereiten. Dies gelte umso mehr, wenn es nach der Machtübernahme der Taliban zu lokalen Gewalteskalationen oder gar einem Bürgerkrieg kommen würde, sagte der Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Osnabrück dem Evangelischen Pressedienst (epd). Ein solches Szenario würde die Zahl der Flüchtlinge deutlich erhöhen, sowohl im Land selbst als auch in der Gesamtregion, wie Erfahrungen aus Syrien oder anderen Kriegen zeigten.
In diesem Fall wären auch die Nachbarstaaten rasch überfordert. „Unter solchen Umständen wären Resettlement-Programme sicher sinnvoller, als wenn die Menschen versuchen, über alle möglichen Wege unkontrolliert nach Europa zu kommen“, sagte der Politikwissenschaftler. Deutschland, wo bereits eine größere afghanische Minderheit lebt, dürfte zu den Hauptzielländern der Flüchtlinge gehören.
„Nährboden für Radikalisierungen“
Aktuell sei allerdings vor allem wichtig, den Binnenflüchtlingen in Afghanistan und denen, die sich über die Grenzen nach Pakistan, Usbekistan oder Iran absetzen könnten, humanitär zu helfen und ihnen Perspektiven zu eröffnen, sagte Schneckener. Dazu müssten Deutschland und Europa in Verhandlungen mit allen Beteiligten einen Beitrag leisten: „Aus vielen Kontexten wissen wir, dass Kriegsflüchtlinge oftmals über Jahrzehnte in Lagern, abgeschottet vor der Aufnahmegesellschaft, leben, was nicht selten ein Nährboden für Radikalisierungen bietet.“ Das zeige auch die Geschichte der Taliban. Sie seien aus den Religionsschulen afghanischer Flüchtlinge in Pakistan hervorgegangen. „Der Westen sollte ein großes Interesse daran haben, solche Entwicklungen zu verhindern.“
Das neue Taliban-Regime dürfte es nach den Worten des Politikwissenschaftlers schwer haben, funktionierende staatliche Dienstleistungen etwa im Gesundheits- oder Bildungswesen zu erbringen. Die Gesellschaft habe sich in den vergangenen 20 Jahren durch sozialen und Bildungsaufstieg stark verändert und ausdifferenziert. „Die militärische Machteroberung ist leichter als der politische Machterhalt.“
Einsatz müsse aufgearbeitet werden
Der Professor für Friedens- und Konfliktforschung rät der deutschen Politik zudem, das 20 Jahre währende zivil-militärische Engagement in Afghanistan aufzuarbeiten und zu evaluieren. Er warnte davor, den gesamten Einsatz ausschließlich nach seinem Ende zu beurteilen. „Der Abzug mündete in ein Desaster, das bedeutet aber nicht, dass alles falsch oder sinnlos war.“