Esslingen (epd). Pflegefachkräfte werden nach der Feststellung der Pflegewissenschaftlerin Annette Riedel immer wieder mit Todes- und Suizidwünschen der von ihnen betreuten Menschen konfrontiert. „Sie können sich diesen Wünschen und den damit verbundenen Hoffnungen sowie Erwartungen nicht entziehen“, sagt die Pflegeprofessorin an der Hochschule Esslingen im Interview mit epd sozial. Allerdings seien die Pflegeberufe auf die sensible Thematik nicht angemessen vorbereitet. Die Fragen stellte Markus Jantzer.
epd sozial: Frau Professorin Riedel, Sie wollen eine Forschungslücke im Bereich der professionellen Pflege schließen. Worin besteht die Lücke und welche Erkenntnisse hoffen Sie, in einer dreijährigen Forschungsarbeit zu gewinnen?
Annette Riedel: Pflegefachpersonen in der stationären und ambulanten Langzeitpflege begleiten ältere Menschen auch in ihrer letzten Lebensphase und im Sterben. Sie nehmen aufgrund der zumeist über einen längeren Zeitraum bestehenden Pflegebeziehungen eine Schlüsselfunktion im Versorgungsprozess ein und werden vielfach als erste Ansprechpersonen ins Vertrauen gezogen, wenn Menschen Wünsche nach Suizidassistenz - implizit oder explizit - zum Ausdruck bringen. Insbesondere dann, wenn der Wunsch nach einem assistierten Suizid geäußert wird, ist die Pflege und Begleitung aus pflegefachlicher und -ethischer Perspektive höchst anspruchsvoll. In Deutschland sind Pflegefachpersonen auf den Umgang mit Anfragen nach Suizidassistenz aber nicht angemessen vorbereitet. Das liegt an der umfassenden Unsicherheit im Umgang mit dieser höchst sensiblen und anspruchsvollen Thematik selbst, aber auch an fehlenden Kompetenzen, Instrumenten und Verfahren, die Handlungssicherheit eröffnen und ethisch begründete Entscheidungen absichern. Auch besteht bei dieser Thematik eine Forschungslücke in Deutschland.
epd: Was genau wollen Sie erforschen?
Riedel: Es mangelt international an Leitlinien, die sowohl die pflegerische Rolle in Bezug auf Anfragen nach Suizidassistenz spezifizieren als auch klärend und unterstützend wirken. In Deutschland fehlt bislang eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit der Rolle und der Erlebensperspektive der Pflegefachkräfte in der Langzeitpflege. Auf diese Forschungslücke will das wissenschaftliche Vorhaben reagieren, indem in einem partizipativen Forschungsprozess mit Pflegefachpersonen Praxisleitlinien und Ethikleitlinien entwickelt werden. Sie sollen fachlich fundiertes Handeln als auch die essenziellen ethisch reflektierten Entscheidungen der Pflegenden bei Anfragen nach einem assistierten Suizid und mit Blick auf Suizidprävention fachlich und ethisch rahmen und unterstützen. Beide Instrumente werden in der Literatur als wichtige Hilfsmittel für Pflegefachpersonen empfohlen. Darüber hinaus hat das Projekt zum Ziel, die Tragweite der Suizidassistenz und Suizidprävention für die Profession Pflege herauszuarbeiten, damit verbundene fachliche und ethische Herausforderungen zu identifizieren und zu konturieren. Diese empirische Identifikation ist einerseits grundlegend für eine angemessene Qualifikation und andererseits für die Offenlegung des konkreten Unterstützungsbedarfs der Pflegefachpersonen.
epd: Wie gehen Pflegefachkräfte in ambulanten Diensten und Altenheimen aktuell damit um, wenn sie mit Anfragen nach Assistenz beim Suizid konfrontiert werden?
Riedel: Genau das wollen wir in unserer ersten Forschungsphase herausfinden. Wie werden Pflegefachpersonen mit Anfragen nach einem assistierten Suizid konfrontiert und wie reagieren sie darauf? Und wie moralisch und fachlich selbstwirksam erleben sie sich und welche Orientierungshilfen in ihren Einrichtungen existieren? Wir kooperieren dabei mit sechs bundesweit agierenden Trägern der stationären und ambulanten Langzeitpflege. Bei diesen handelt es sich um kirchliche, kommunale und private Träger, wodurch wir die Varianz und Vielfalt möglicher (Werte-)Orientierungen abdecken möchten.
epd: Wie könnte ein professioneller Umgang mit dem Thema in Pflegeeinrichtungen aussehen?
Riedel: Aus analytischer Perspektive lässt sich im Kontext der Anfragen nach einem assistierten Suizid und der Suizidprävention feststellen: An Pflegefachpersonen, die hier verantwortungsvoll handeln sollen, werden spezifische fachliche Anforderungen und moralische Ansprüche gestellt. Wie die Aufgaben konkret für die Pflegefachpersonen in der ambulanten und stationären Langzeitpflege auszugestalten sind, gilt es in der partizipativen Forschungsarbeit zu erfassen und in den zu entwickelnden Leitlinien aufzugreifen.
epd: Einen geäußerten Todes- oder Suizidwunsch richtig zu verstehen, ist eine äußerst herausfordernde Aufgabe …
Riedel: Todes- wie auch Suizidwünsche kommen sehr unterschiedlich zum Ausdruck und sind vielfach volatil. Parallel dazu ist die Äußerung eines Todeswunschs beziehungsweise auch eines Wunschs nach assistiertem Suizid nicht immer gleichzusetzen mit dem tatsächlichen Wunsch, nicht mehr leben zu wollen. In der Folge ist es zu hinterfragen und zu identifizieren, welche konkreten Gründe den geäußerten Wünschen zugrunde liegen. Es geht um einen wertschätzenden und zugewandten Umgang mit solchen Wünschen, der das gesamte Spektrum an Möglichkeiten in Bezug auf die Bedürfnisse der Betroffenen berücksichtigt und nur so den Zugang zu den dahinterstehenden Motiven der älteren Menschen eröffnet. Der Umgang mit diesen Wünschen ist fachlich und ethisch hoch komplex und fordert fachliche und ethische Expertise, Sicherheit und Verantwortungsübernahme. Aber auch eine offene Haltung hinsichtlich der Suizidprävention. Die in dem Forschungsprojekt partizipativ zu entwickelnden Praxis- und Ethikleitlinien sollen dazu beitragen, einen fachlich fundierten Umgang mit Anfragen nach assistiertem Suizid und den Forderungen der Suizidprävention zu unterstützen.
epd: Wie präsent sind Todeswünsche und Wünsche nach Suizidassistenz in der ambulanten und stationären Pflege? Gibt es dazu empirische Schätzungen?
Riedel: Eine Studie aus diesem Jahr kommt zu dem Ergebnis, dass bei rund einem Drittel der in München durch Suizidassistenz Verstorbenen (bei einem Durchschnittsalter von 78,9 Jahren) Pflegebedürftigkeit vorlag. Stellt man der Suizidhäufigkeit der über 80-Jährigen dem Sachverhalt gegenüber, dass ein Drittel der pflegebedürftigen Menschen 85 Jahre und älter ist, so verdeutlicht das einerseits, dass Pflegefachpersonen potenziell mit Suizidwünschen und den Anfragen nach Suizidassistenz konfrontiert werden. Zahlen aus dem Ausland zeigen, dass es vor allem Menschen über 65 Jahre sind, die eine Suizidassistenz oder Tötung auf Verlangen in Anspruch nehmen.
epd: Suizidassistenz ist ethisch hoch umstritten. Inwieweit fließt die Haltung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in das Forschungsprojekt ein?
Riedel: Ein Forschungsvorhaben zu einem gesellschaftlich und ethisch höchst kontroversen und hochkomplexen, aber auch persönlich sensiblen Thema wie den Anfragen nach Suizidassistenz und der Suizidprävention erfordert eine umfassende ethische Reflexion, die sich auf den gesamten Forschungsprozess ausweitet. Seitens der beteiligten Forschenden ist es geboten, die persönliche Haltung hinsichtlich der Suizidassistenz und der Suizidprävention kontinuierlich zu reflektieren, um eine unvoreingenommene Perspektive im Rahmen der Datenerhebung und -auswertung wie auch in der Begegnung mit den Pflegefachpersonen zu gewährleisten. Aktuell wird ein ethisches Clearing bei der Ethikkommission der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft eingeholt. So wird sichergestellt, dass den forschungsethischen Anforderungen im Rahmen des Projekts Rechnung getragen wird. Die Forschenden verpflichten sich zur Einhaltung der dort dargelegten forschungsethischen Prinzipien.