sozial-Branche

Pflege

Gastbeitrag

Ist das stambulante Versorgungsmodell zukunftsweisend?




Stefanie Siebelhoff
epd-bild/Nicole Cronauge/Caritas
Bundesgesundheitsminister Lauterbach will die stambulante Versorgung flächendeckend ermöglichen. Gedacht ist an eine dritte Säule neben ambulanter und stationärer Versorgung. Stefanie Siebelhoff, Vorständin des Caritasverbandes für das Bistum Essen, sieht darin einen sinnvollen Ansatz für erhoffte Reformen in der Pflege. Aber, so betont sie im Gastbeitrag für epd sozial: Es bleiben noch viele Fragen offen.

Die Babyboomer lassen die Zahl der Pflegebedürftigen in den kommenden Jahren steigen. Gleichzeitig verschärft sich der Personalmangel sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Pflege und Betreuung. Hinzu kommt, dass steigende Lohnkosten, Inflation und fehlende Investitionen dafür sorgen, dass Heime und ambulante Dienste chronisch unterfinanziert sind und teils insolvent gehen. Als weitere Folge der steigenden Kosten schießen die Eigenbeiträge der im Heim versorgten Menschen in die Höhe.

Vor diesem Krisenszenario ist zwischen Akteuren aus Politik, Wissenschaft und Praxis eine Grundsatzdebatte über die Zukunft der pflegerischen Versorgung in Deutschland entbrannt. Im Mittelpunkt steht die Sorge um die Versorgungssicherheit für unsere alten und pflegebedürftigen Menschen heute und in Zukunft. Klar ist: Es muss sich etwas ändern.

Lauterbach setzt auf stambulante Versorgung

Diskutiert werden aktuell verschiedene Ansätze. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat dazu einen Gesetzentwurf für die zweite Jahreshälfte 2024 angekündigt, in dem auch das Konzept der stambulanten Versorgung als dritte Säule neben ambulanter und stationärer Versorgung eine wichtige Rolle spielen soll.

Die Versorgungsform „stambulant“ ist nicht neu: Als Mitmach-Pflegeheim" der BeneVit Gruppe in Wyl, Baden-Württemberg, liefert der Ansatz seit inzwischen acht Jahren praktische Erfahrungen im Modellprojekt - mit wissenschaftlicher Begleitung. Der Alltag wird selbst zur therapeutischen Methode, weil alle Bewohner des Pflegeheims aktiv eingebunden sind. Sie übernehmen das Kochen, Waschen, Reinigen, Bügeln, Dekorieren, Gartenarbeit und andere Tätigkeiten selbst, je nach geistiger und körperlicher Fähigkeit, und erleben sich somit als wertvolle Mitglieder der Hausgemeinschaft.

Auch Angehörige können sich an den Tätigkeiten beteiligen, um den Eigenanteil der Heimkosten zu senken. Im Vordergrund steht das miteinander Leben und Bewältigen der täglich anfallenden Aufgaben in der Gemeinschaft. Hierzu wurde das Pflegefachpersonal zugunsten hauswirtschaftlicher und betreuender Mitarbeitenden verringert. Das Wohnambiente im Pflegeheim in Wyl erinnert an eine Großfamilie - mit offenem Kamin im Wohnzimmer und einer großen Küche mit Essplatz. Ein Dienstzimmer der Pflegekräfte sucht man dort vergeblich.

Neuer Ansatz der Finanzierung überzeugt

Revolutionär an der Finanzierungssystematik ist, dass sowohl Mittel aus der Krankenversicherung nach SGB V als auch aus der Pflegeversicherung nach SGB XI abgerufen werden, was derzeit in der stationären Pflege nicht möglich ist.

Ein grundsätzlicher Architekturfehler bei Einführung der Pflegeversicherung war, dass die Leistungen der medizinischen Behandlungspflege, wie etwa Kompressionsstrümpfe anziehen oder die Wundversorgung für Pflegebedürftige, in stationären Einrichtungen nicht über die Krankenversicherung finanziert werden. Das könnte sich mit dem stambulanten Versorgungskonzept ändern.

Zustimmung kommt auch aus der Pflegewissenschaft. Professor Heinz Rothgang von der Universität Bremen befürwortet das Konzept grundsätzlich, warnt jedoch vor Abgrenzungsproblemen zwischen der Abrechnung ambulanter und stationärer Pflegeleistungen und vor der Errichtung einer dritten Säule.

Abrechnungsschwierigkeiten sieht Kaspar Pfister, geschäftsführender Gesellschafter der BeneVit Gruppe, in seinem Modell nicht, weil alle erbrachten Leistungen ambulant abgerechnet werden. Ein Fachtag zum Thema beim Caritas-Diözesanverband Essen Anfang Juli hat gezeigt, wie schwierig es ist, diesen Ansatz Personalverantwortlichen und Praktikern aus dem Bereich der Pflege zu vermitteln. Die reflexartige Antwort „Das machen wir doch alles schon!“ wird dem stambulanten Konzept jedoch nicht gerecht.

Noch fehlt eine gesetzliche Grundlage

Es ist eine echte Alternative, was die Versorgungsform in der Langzeitpflege angeht. Leider sind die gesetzlichen Grundlagen für eine flächendeckende Umsetzung noch nicht geschaffen. Meine Hoffnungen ruhen auf der angekündigten Gesetzesinitiative von Bundesgesundheitsminister Lauterbach.

Wir brauchen dringend kreative Lösungen in der Pflege und neue Ansätze von Wohn- und Versorgungskonzepten, um den vielfältigen Bedarfen einer kommenden Generation Pflegebedürftiger gerecht zu werden, die es gewohnt ist, selbstbestimmt zu leben und eigenständig zu entscheiden. So individuell wie die Lebensstile der Babyboomer sind, muss auch die pflegerische Versorgung flexibler werden. So viel Hilfe, wie nötig, so viel Selbstständigkeit, wie möglich.

Aber es bleiben - wie bei allen Veränderungen - auch Fragen offen: So bedeutet eine deutliche Verringerung der Fachkraftquote in der Pflege zusätzliche Verantwortung für die verbleibenden Pflegefachkräfte. Wie wirkt sich das aus? Wie verbindlich können Ehrenamtliche und Angehörige in Versorgungsprozesse eingebunden werden? Muss ich mich als Angehörige zukünftig entscheiden, ob ich lieber Mamas Wohnung putzen will oder mit ihr Eis essen gehe?

Stambulanter Ansatz kann wichtiger Baustein sein

Am 1. Januar 2025 wird die Pflegeversicherung 30 Jahre alt. Das ist ein guter Zeitpunkt, zurückzublicken und zugleich den Blick perspektivisch nach vorn zu richten. Wie geht es weiter mit der Pflege? Ein Schritt in die richtige Richtung wäre, die medizinische Behandlungspflege vollumfänglich aus der Krankenversicherung zu finanzieren. Das würde deutlich zur Kostensenkung beitragen.

Das stambulante Konzept bietet zudem die Möglichkeit, die stationäre Versorgung ganz neu zu denken - Bedürfnisse von Angehörigen und Pflegebedürftigen stärker zu berücksichtigen und das Pflegepersonal von Alltagsaufgaben zu entlasten. Gleichzeitig eröffnet sich die Chance, Kosten zu reduzieren. Das ist ein Aufbruch und ein Ansatz für grundlegende Veränderungen. Es ist nicht die alleinige Lösung, aber kann ein Baustein zur künftigen Versorgungssicherheit werden.

Stefanie Siebelhoff ist Vorständin des Caritasverbandes für das Bistum Essen.