Frankfurt a.M. (epd). Hein de Haas forscht seit drei Jahrzehnten zu Migration. Der Niederländer veröffentlichte zuletzt das Sachbuch „Migration - 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt“. Darin zeigt er, dass die politische Debatte über Migration oft auf falschen Annahmen beruht. Im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) erklärt er, warum Migration sich nicht steuern lässt wie ein Wasserhahn, den man auf- und zudreht, und warum Grenzschließlungen für die Zuwanderungskontrolle wenig bringen. Die Fragen stellte Franziska Hein.
epd sozial: Sie argumentieren, dass Versuche, die Migration einzuschränken, nicht viel bewirken. Warum ist das so?
Hein de Haas: Viele politische Maßnahmen haben nicht die beabsichtigte Wirkung oder sind sogar kontraproduktiv. Das liegt daran, dass diese Konzepte nicht auf dem Verständnis dafür basieren, wie Migration wirklich funktioniert. Wir sollten die Diskussion über Migration sachlicher führen. Es ist wichtig zu wissen, dass es seit den 1970er und 1980er Jahren immer wieder Debatten über Einwanderung gibt, weil sie ständig schwankt.
epd: Was sagen Sie den Politikern und Leuten, die versprechen, die illegale Migration zu reduzieren?
Hein de Haas: Politiker versprechen oft, Zuwanderung zu verringern, weniger Flüchtlinge aufzunehmen und die Integration zu fördern. In ganz Europa und in den Vereinigten Staaten sagen Politiker, dass sie gegen die Schleuserkriminalität im Mittelmeer oder an der US-mexikanischen Grenze vorgehen und die illegale Migration bekämpfen werden. Sie behaupten, sie würden die Zahl der Migranten und Flüchtlinge reduzieren. Es geht aber selten darum, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Die entscheidende Frage, die kaum gestellt wird, ist das „Wie“.
epd: Warum ist das so?
Hein de Haas: Das größte Missverständnis in Bezug auf die Migration ist, dass man sie kontrollieren kann wie einen Wasserhahn, den man auf- und zudreht. Migration wird weitgehend von sozialen und wirtschaftlichen Prozessen bestimmt. In politischen Debatten wird zudem oft der Eindruck erweckt, es ginge hauptsächlich um Flüchtlinge, aber die tatsächlichen Flüchtlinge machen nur einen relativ kleinen Teil der gesamten Migration aus. In Europa, auch in Deutschland, hat die Zuwanderung in den letzten 10 bis 20 Jahren deutlich zugenommen, was vor allem auf die Arbeitsmigration und nicht auf Flüchtlinge zurückzuführen ist.
epd: Politiker in der EU und in Deutschland fordern oft, die Grenzen zu kontrollieren oder gar zu schließen. Hätte das irgendwelche Auswirkungen?
Hein de Haas: Wenn man die Grenzen schließt, bedeutet das oft, dass die Migration in den Untergrund geht. Die Schließung der Grenzen führt zu unerwarteten Effekten und kann völlig kontraproduktiv sein. Je schwieriger man die Einreise macht, desto mehr Migranten neigen dazu, zu bleiben.
epd: Das muss ja Gründe haben ...
Hein de Haas: Freie Migrationsbewegungen sind stark zirkulär und fließend. Beschränkungen frieren die Migration oft ein und drängen Migranten in dauerhafte Niederlassungen. Für Migranten, die sich illegal in einem Land aufhalten, besteht sogar noch weniger Anreiz, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren. Das geschah zum Beispiel bei den Gastarbeitern, die aus der Türkei und anderen Ländern nach Deutschland kamen. In den 1970er und 1980er Jahren, als die Einreise erschwert wurde, kehrten die Menschen nicht zurück, sondern blieben und holten ihre Familien nach. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Auswirkungen von Beschränkungen sowohl auf die Zuwanderung als auch auf die Rückwanderung zu verstehen. So sollte beispielsweise der Brexit die Migration stoppen, aber er hat viele Osteuropäer erst dazu gebracht, sich dauerhaft in Großbritannien niederzulassen, weil sie Angst hatten, zurückzugehen.
epd: Sollten wir also lieber die Grenzen öffnen?
Hein de Haas: Statt pauschal Grenzen zu öffnen, wäre es wahrscheinlich hilfreicher, mehr legale Migrationswege zu schaffen. Gegenwärtig wird in Ländern wie Deutschland oder Frankreich massiv geleugnet, dass viele gering qualifizierte Arbeitsmigranten aus europäischen und außereuropäischen Ländern alle möglichen Arbeiten verrichten, die Einheimische nicht machen wollen. Hier liegt das Hauptproblem: Man kann in einem wohlhabenden Land mit einer alternden Bevölkerung keinen liberalen, offenen Arbeitsmarkt haben und gleichzeitig viel weniger Zuwanderung wollen. Die Migration dient mächtigen wirtschaftlichen Interessen und kommt nicht nur Großunternehmen, sondern auch der Mittelschicht zugute. Die Menschen bekommen zum Beispiel ihr Essen geliefert, lassen ihre Großeltern von Wanderarbeitern pflegen oder ihre Häuser putzen.
epd: In Ihrem Buch sprechen Sie von einem sogenannten Migrationstrilemma, vor dem die westlichen Regierungen stehen. Was meinen Sie damit?
Hein de Haas: Das Migrationstrilemma bedeutet, dass man nicht drei Dinge gleichzeitig haben kann: eine erfolgreiche Wirtschaft, die eine große Nachfrage nach Arbeitskräften, sowohl hoch als auch niedrig qualifizierte, schafft, eine offene Demokratie, die wir erhalten wollen, und eine deutlich reduzierte Zuwanderung. Es ist unmöglich, alle drei Ziele gleichzeitig zu erreichen. Eine florierende Wirtschaft zieht Migranten an, und in einer liberalen Demokratie, die die grundlegenden Menschenrechte achtet, sind die Möglichkeiten, die Mobilität von Menschen zu kontrollieren, begrenzt.
epd: Warum sind Gesellschaften, Politiker und die Medien so besessen von diesem Thema?
Hein de Haas: Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Erstens wird Migration oft als Sündenbock für verschiedene Probleme benutzt. Zweitens ist das Schüren von Angst eine klassische Taktik von Politikern. Wenn die Menschen Angst vor einem äußeren Feind haben, neigen sie dazu, sich hinter einen starken Politiker zu stellen, der verspricht, das Land zu retten und die Probleme zu lösen.
epd: In Ihrem Buch zeigen Sie, dass Geldtransfers in die Herkunftsländer oft die Entwicklungshilfe übertreffen. Wie könnte sich das Prepaid-Kartenmodell für Asylbewerber in Deutschland auswirken?
Hein de Haas: Das ist vor allem Symbolpolitik. In Deutschland und den Niederlanden leben viele Flüchtlinge von der Sozialhilfe, auch weil sie nicht arbeiten dürfen und lange auf eine Arbeitserlaubnis warten müssen. Die meisten Flüchtlinge wollen aber nicht abhängig sein, sondern ihr Leben in die Hand nehmen und einen Beitrag leisten. Exemplarisch ist der Umgang mit ukrainischen Kriegsflüchtlingen in den Niederlanden. Sie erhalten eine sehr geringe Lebensunterhaltsbeihilfe, dürfen aber sofort arbeiten. Diese schnelle Eingliederung in den Arbeitsmarkt zeigt, dass es von Vorteil sein kann, wenn Flüchtlinge arbeiten dürfen. Viele nordwesteuropäische Länder wie Deutschland, auch die Niederlande oder die skandinavischen Länder sind immer noch mit diesem „Abhängigkeitssyndrom“ konfrontiert, weil sie nicht akzeptieren können, dass einige Menschen einfach nicht mehr zurückkehren werden und das auch nicht schädlich ist. Das derzeitige System wird jedoch in Zukunft Probleme schaffen, da es zu mehr Ausgrenzung und Abhängigkeit von der Sozialhilfe führt.