Hamburg (epd). Wer schafft es ins Finale? Wer wird Europameister? Wetten haben während der Fußball-Europameisterschaft (EM) Hochkonjunktur. Erstmals wirbt ein Sportwettenanbieter als EM-Hauptsponsor großflächig auf Fanfesten und in Stadien. „Dabei sind Sportwetten kein harmloses Freizeitvergnügen“, sagt Lara Rolvien von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Hamburger Universitätsklinikums Eppendorf (UKE). Gerade Sportwetten hätten „ein hohes Suchtpotenzial“, weiß die Psychologin.
Um Menschen mit problematischem Glücksspielverhalten zu helfen, hat sie mit anderen Forschenden des UKE das Online-Selbsthilfeprogramm „Neustart“ (neustart-spielerhilfe.de) entwickelt. Das Programm ist kostenfrei, komplett anonym und in Deutsch, Türkisch, Arabisch und Serbisch verfügbar.
Schon jetzt weist der Glücksspielatlas der Bundesregierung auf 1,3 Millionen Glücksspielsüchtige sowie zusätzliche 3,3 Millionen Gefährdete hin, Tendenz steigend. „Besonders gefährdet sind aber vor allem jüngere Männer durch ein riskantes Wetten beim Sport“, sagte Bundesdrogenbeauftragter Burkhard Blienert (SPD) im November bei der Vorstellung des Glücksspielatlas 2023. Dass während der Fußball-EM ein Sportwettenanbieter als Sponsor auftritt, findet auch die Psychologin Rolvien problematisch: „Die Werbung kann das Glücksspielverhalten des Publikums verstärken.“
In der Glücksspielsucht-Selbsthilfe sei die Sucht nach Sportwetten die Spielform, die am schnellsten wächst und sehr vielen jungen Menschen die Existenz kostet, hieß es vom Dachverband der Selbsthilfegruppen anlässlich einer Protestaktion Ende Juni gegen die Sportwetten-Werbung bei der EM. Besonders männliche Jugendliche und junge Erwachsene seien für den Adrenalinkick durch diese Wetten empfänglich und glaubten, sie könnten mit ihrem Wissen über Sport das schnelle Geld machen. Dabei seien Sportwetten reines Glücksspiel.
„Die Hemmschwelle für die Teilnahme an solchen Wetten ist niedrig“, weiß Rolvien. Online-Sportwetten seien rund um die Uhr verfügbar und durch das Einsetzen von kleineren Geldbeträgen „kann man schnell den Überblick verlieren, wie viel eingesetzt und verspielt wurde“, sagt die Psychologin.
Hilfe finden Betroffene laut Glücksspielatlas bei knapp 400 ambulanten und stationären Einrichtungen in Deutschland. Neben Beratungsstellen, Kliniken mit glücksspielbezogenen Hilfen und Selbsthilfegruppen gebe es Telefonhotlines und digitale Angebote. Aber: „Nur etwa zehn Prozent der Menschen mit Glücksspielsucht befinden sich in professioneller Behandlung. Grund dafür sind verschiedene Behandlungsbarrieren wie Scham, Problemleugnung und ein Mangel an spezialisierten Versorgungsangeboten“, sagt Rolvien, Studienleiterin des „Neustart“-Programms. Gerade digitale Angebote könnten Menschen helfen, die noch nicht bereit sind, über ihr Problem persönlich zu sprechen und es erst mal selbst lösen wollen.
Das neue multimediale Selbsthilfeprogramm des Hamburger Uniklinikums basiere unter anderem auf kognitiver Verhaltenstherapie, achtsamkeitsbasierten Methoden und motivierender Gesprächsführung. Es beinhalte Themen wie Selbstwert, soziale Kompetenz, Umgang mit Spieldrang und Schuldenmanagement. „Glücksspielprobleme folgen häufig auf andere Probleme wie Isolation und Depression“, sagt Rolvien. Deshalb gehe es auch darum, Selbstwert, soziale Kompetenz oder positive Aktivitäten der Teilnehmenden zu stärken.
Begleitet werde das Programm von einer App „COGITO“, die auf Wunsch täglich kurze Übungen liefert. Dass es funktioniert, habe eine Studie mit 243 Menschen gezeigt: „Ihre Gedanken ans Glücksspiel und das Spielverhalten sind nach sechswöchiger Programmnutzung signifikant zurückgegangen“, schildert Rolvien. Trotzdem hofft sie auf eine Sensibilisierung von Fußballverbänden: „Sport sollte einfach keine Werbeplattform für potenziell schädliches Verhalten bieten.“