Berlin (epd). Ohne mehr Wohnraum zu schaffen, etwa auch durch Nutzung leerstehender Bürogebäude, werde sich das Problem Wohnungslosigkeit nicht lösen lassen, betont Stefan Schneider. Der Geschäftsführer der Wohnungslosen_Stiftung fordert die Auflösung von Notquartieren, denn: „Sie kosten viel Geld und tragen dazu bei, dass Menschen obdachlos bleiben.“ Die Stiftung unterstützt wohnungslose Menschen bei der Vertretung ihrer Interessen. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Die Wohnungslosen_Stiftung als Betroffenenorganisation wurde im Vorfeld der Beratungen des Nationalen Aktionsplans nicht gehört. Sparen Sie deshalb nicht mit Kritik an den Plänen, die ja von anderen Sozialverbänden zumindest als ein erster Schritt in die richtige Richtung gesehen werden?
Stefan Schneider: Die Wohnungslosen_Stiftung erhält keine staatliche Förderung, deshalb können wir als Netzwerk angstfrei sagen, was wir für richtig halten und sind da nicht in Abhängigkeiten. Insbesondere Menschen, die auf der Straße leben, brauchen Antworten und können nicht immer weiter vertröstet werden. Das ist der Kern der Kritik. Wir hatten ja im Vorfeld vorgeschlagen, dass eine größere Gruppe der vielen Erfahrungsexperten und -expertinnen am Prozess beteiligt werden sollte. Darauf gab es nie eine Reaktion. Wäre das Ministerium darauf eingegangen, hätte der Plan eine ganz andere Handschrift bekommen.
epd: Was vermissen Sie ganz grundsätzlich in dem jetzt angekündigten Vorhaben, das ja immerhin das erste seiner Art ist?
Schneider: Von der Entschlossenheit, bis 2030 Wohnungslosigkeit überwinden zu wollen, ist nichts mehr übrig. Zum Beispiel: Der nächste Winter kommt, und das wäre die Chance gewesen, obdachlosen, auf der Straße lebenden Menschen konkrete, abrechenbare Angebote zu machen. Wir haben Gutscheine für Hotelunterbringung vorgeschlagen. Stattdessen wird es weiterhin die menschenunwürdigen, zwangsgemeinschaftlichen Massennotunterkünfte geben, die in der Regel tagsüber wieder verlassen werden müssen. Das sind Orte der Gewalt, und viele obdachlose Menschen bleiben lieber draußen, als da hinzugehen. Das ist doch furchtbar.
epd: Sie rügen, dass dieser Plan versucht, Obdachlosigkeit weiter mit den bestehenden Mitteln zu regulieren. Was ist die Alternative und wer sollte hier Herr des Verfahrens sein?
Schneider: Man muss an die Ursachen ran: Keine weiteren Zwangsräumungen mehr. Und zweitens kommt es darauf an, obdachlose Menschen in Wohnungen zu bringen. Es stehen viele Wohnungen leer - Ferienwohnungen, Zweitwohnungen, Spekulationsobjekte. Darüber hinaus könnten leerstehende Gewerbeflächen sehr einfach zu Wohnungen umgenutzt werden. Damit das alles legal ablaufen kann, sind Gesetzesänderungen erforderlich und ein Etat, um das umzusetzen. Eigentlich sollte das die Politik und Verwaltung können.
epd: Sie verweisen darauf, dass die Corona-Pandemie gezeigt habe, was im Bereich Obdachlosenhilfe alles möglich war. Was meinen Sie genau, was heute wieder fehlt und künftig wichtig wäre?
Schneider: Während der Corona-Pandemie wurden Zwangsräumungen ausgesetzt und obdachlose Menschen wurden - leider nur in wenigen Städten und in einzelnen Projekten - in Hotelzimmern untergebracht. Die Erfahrungen damit waren außerordentlich positiv. Sie konnten erstmalig anfangen, über ihre Zukunft nachzudenken, und erste Schritte der Veränderung in die Wege leiten. Das ist beim täglichen Überlebenskampf auf der Straße zwischen Suppenstube und Notschlafstelle überhaupt nicht möglich. Es geht also darum zu verhindern, dass die Zahl der wohnungslosen Menschen weiter steigt und allen, die wohnungslos sind, so schnell wie möglich eine eigene Wohnung anzubieten oder eine vergleichbare Unterkunft. Stattdessen geben Bund, Länder und Kommunen viel Geld aus für Angebote, bei denen wohnungslose Menschen wohnungslos bleiben.
epd: Sie haben mit Wohnungslosen eine eigene Stellungnahme zum Aktionsplan erstellt. Was steht da drin und wo liegen die anderen Akzente?
Schneider: Es sind programmatische Forderungen, gegliedert in sieben Abschnitte, die gemeinsam erarbeitet wurden. Die Stichworte dazu sind, Erfahrungsexperten und -expertinnen angemessen zu beteiligen und diese Beteiligung strukturell zu ermöglichen. Dann findet sich die Forderung, das Menschenrecht auf Wohnung im Grundgesetz zu verankern und gemeinwohlorientiertes Wohnen auszubauen. Zudem fordern wir, Zwangsräumungen dauerhaft auszusetzen und die Prävention ausbauen. Wir meinen, die die ordnungsrechtliche Unterbringung von Obdachlosen muss zu Gunsten von eigenen Wohnungen überwunden werden. Der Staat sollte zudem den Leerstand von Immobilien erfassen, anstatt wohnungslose Menschen zu zählen. Und: Die Straßenobdachlosigkeit muss sofort beendet werden.
epd: Zwei Forderungen lassen besonders aufhorchen: Das Verbot von Zwangsräumungen, damit die Betroffenen nicht auf der Straße landen, und die Auflösung von Notunterkünften. Klingt beides nicht realistisch.
Schneider: Das ist jedoch genau das, was getan werden muss, um Wohnungslosigkeit bis 2030 zu beenden. Notunterkünfte sind ein Teil des Problems und nicht ein Teil der Lösung. Sie kosten viel Geld und tragen dazu bei, dass Menschen obdachlos bleiben.
epd: In Ihrer Stellungnahme steht auch: „Als Sofortmaßnahme zur Bekämpfung der akuten Not auf der Straße erhält jeder einzelne auf der Straße lebende Mensch mit sofortiger Wirkung einen Gutschein für eine mindestens fünfmonatige Hotelunterbringung. Während dieser Zeit wird ein Übergang in eine eigene Wohnung organisiert.“ Wie soll das gehen, wenn da nicht auch die Hotels mitspielen?
Schneider: Warum sollten die Hotels da nicht mitspielen? Es ist doch äußerst attraktiv, über Monate hinweg garantierte Einkünfte zu erzielen.
epd: Aus Ihrer Sicht gehört der Anspruch „Menschenrecht auf Wohnung“ in das Grundgesetz. Das wäre doch auch nur eine Absichtserklärung oder was versprechen Sie sich davon?
Schneider: Das Menschenrecht auf Wohnung gehört im Grundgesetz verankert, weil wir einen einklagbaren Rechtsanspruch auf eine Wohnung oder eine selbstbestimmte Wohnform dringend benötigen. Auch die Mieterbewegung fordert ja: keine Profite mit der Miete. Wir müssen wieder dahin kommen, dass bezahlbare Wohnungen als Teil der gemeinschaftlichen Daseinsvorsorge gesehen werden.
epd: Alles steht und fällt mit dem Bau neuer und vor allem bezahlbarer Wohnungen, also Sozialwohnungen. Aber auch die nützen ja Ihrer Klientel nichts, es sei denn, man redet über Housing First.
Schneider: Klientel ist auch wieder so ein Wort der Abgrenzung. Aber Sie haben recht: Im Wettbewerb der vielen Wohnungsnotfallgruppen sind obdachlose Menschen und insbesondere die, die schon lange auf der Straße sind, ganz ganz weit hinten und haben fast gar keine Chance, wieder in eine Wohnung zu kommen. Housing-First-„Modellprojekte“ für obdachlose Menschen schießen ja gegenwärtig wie Pilze aus dem Boden. Damit verbunden sind aber zwei große Missverständnisse.
epd: Welche sind das?
Schneider: Es ist durch zahlreiche Studien nachgewiesen, dass nur mit einer Wohnung die Obdachlosigkeit nachhaltig überwunden werden kann. Das muss man also mehr ausprobieren. Es geht also um regelhafte Angebote. Und zweitens: Wenn sich an der Menge der verfügbaren freien Wohnungen nichts ändert, ist Housing First nichts anderes als eine sehr teure, aufwändige spezialisierte Wohnraumvermittlung für einige wenige Menschen. Wir kennen ja alle die Zahlen: 50 oder 100 Vermittlungen im Jahr in eigenen Wohnraum. So viele Menschen kommen gegenwärtig pro Woche durch Zwangsräumung in die Obdachlosigkeit. Mit anderen Worten: Housing First muss darauf zielen, dass alle eine Wohnung bekommen. Der gesamte Wohnungsmarkt muss umstrukturiert werden. Wohnen ist ein Grundbedürfnis und keine Ware.
epd: Sie werben für Umbau und Umnutzung leerstehender Gebäude. Ist das, weil es schneller ginge und wohl auch billiger wäre, ein wichtiger Ansatz im Kampf gegen Wohnungslosigkeit?
Schneider: Mit Sicherheit. Es muss Schluss damit sein, dass Hilfen organisiert werden, bei denen obdachlose Menschen obdachlos bleiben. Erinnern Sie sich daran, dass im Winter bei Minustemperaturen nachts Bahnhöfe für obdachlose Menschen geöffnet werden? Was ist denn das für eine Maßnahme, wenn wenige Meter entfernt davon Gebäude leer stehen, die beheizbar sind, in denen es Toiletten und elektrischen Strom gibt?