Augsburg (epd). Katys Familie wusste lange nichts von ihrer Krankheit. Die Verwunderung sei groß gewesen, als sie erzählt habe, wie lange sie schon betroffen ist. „Angesehen hat man mir die Bulimie nicht“, sagt die heute 28-Jährige. Sie vergleicht ihre Krankheit mit einer „besten Freundin, die mit weitem Abstand hinter einem geht“. Hilfe bekam sie nach jahrelangem Kampf in der Augsburger Facheinrichtung „Schneewittchen“ des SOS-Kinderdorfes. Die Beratungsstelle hat ihr bei der Suche nach einer Therapeutin geholfen.
Essstörungen können - auch lange unbemerkt vom eigenen sozialen Umfeld - das Leben der Betroffenen komplett bestimmen. Katharina Stang ist Sozialpädagogin bei „Schneewittchen“. Essstörungen laufen so verschieden ab, wie sie entstehen, sagt sie. Und zwar ganz gleich, ob Anorexie, also Magersucht, Bulimie (Ess-Brechsucht) oder eine Binge-Eating-Störung, die auch Esssucht genannt wird. Dabei sei ein auffälliges oder ungesundes Essverhalten nicht immer auch automatisch eine Essstörung, betont die Expertin.
Bei „Schneewittchen“ machen sie diese Unterscheidung aber erst einmal nicht. Gemein haben alle Typen von auffälligem Essverhalten oder Essstörungen, dass Essen zum lebensbestimmenden Thema der Betroffenen wird und sich negativ auf das Wohlbefinden auswirkt. Expertin Stang erklärt, dass das Essen nur ein Symptom sei und dahinter komplexere Faktoren stehen. Gleichzeitig kritisiert sie, „dass das Bewusstsein, dass eine Essstörung nie vordergründig mit dem Thema Essen zu tun hat, bei den wenigsten vorhanden ist“.
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) schätzt, dass von 1.000 Menschen 30 bis 50 an einer diagnostizierbaren Essstörung leiden. Mädchen und Frauen sind dabei zwar deutlich häufiger betroffen. Trotzdem berät die Augsburger Beratungsstelle zunehmend Männer. „Wir hatten einen massiven Anstieg der Fallzahlen während der Corona-Pandemie, als die Menschen sozial isoliert, viel auf Social Media unterwegs waren und sich vermehrt mit ihrem Körper beschäftigt haben“, erläutert die Sozialpädagogin.
Bis eine Essstörung überhaupt entsteht, würden viele Faktoren zusammenkommen. „Sie werden es niemals erleben, dass es einen einzigen, ausschlaggebenden Grund gibt“, sagt Stang. Gesellschaftlicher Druck, eine persönliche Vorbelastung in Form eines geringen Selbstwertgefühls, familiäre Probleme sowie genetische Faktoren und hormonelle Veränderungen können zur Entwicklung einer Essstörung beitragen. Die meisten Betroffenen wollen ihre Erkrankung laut Stang mehr oder weniger lange nicht wahrhaben.
Ähnliches hat auch Mona erlebt. Über den Grund ihrer Essstörung sagt die 31-Jährige: „Jeder wollte nur etwas von mir und ich musste für jeden funktionieren.“ Ein Schönheitsideal sei für sie hingegen nie ausschlaggebend gewesen. Dass sich eine Essstörung bei ihr entwickelt hatte, wollte auch sie anfangs nicht wahrhaben. „Irgendwann kam dann der Moment, als jemand aus meinem näheren Umfeld auf mich zukam und meinte, er werde nicht zuschauen, wie ich sterbe.“
Mona war damals extrem dünn. „Schneewittchen“ empfahl als ersten Schritt eine Ernährungsberatung, danach besuchte sie regelmäßig eine Selbsthilfegruppe von „Schneewittchen“. Die Beratungsstelle finanziert sich in erster Linie von Spenden und Zuschüssen. Katy wiederum nennt eine familiäre Vorbelastung als Ursache für ihre Essstörung, hinzu kam ein Sportzwang: „Ich hatte keine Energie mehr und mein Sozialleben hat gelitten.“ Beide haben einen jahrelangen Kampf von den ersten Anzeichen bis zur Therapie hinter sich.
Was sie Menschen, die am Beginn einer Essstörung stehen, raten würden? Für Mona waren der Kontakt und Austausch mit anderen Betroffenen eine große Unterstützung. Beraterin Stang rät dazu, möglichst früh Hilfe zu holen. Mona ist sich trotz langer Therapie sicher, dass sie die Essstörung ein Leben lang mit sich tragen wird. Aber: „Betroffene können irgendwann ein Leben führen, das nicht mehr von der Essstörung bestimmt ist“, erläutert Stang.