München (epd). „Der Kummer, der nicht spricht, nagt leise an den Herzen“: Mirjam Arzt erlebt jeden Tag, was William Shakespeare mit diesem Vers gemeint haben könnte. Seit einem Jahr sind die 33-Jährige und ihr Mann Stammgäste auf der Kinderkrebsstation im Krankenhaus Schwabing. Im Februar 2023 wurde bei ihrem damals acht Monate alten Sohn Benjamin ein bösartiger Gehirntumor festgestellt - fünf Operationen und sieben Runden Chemotherapie hat Benny bislang hinter sich. „Wir fragen uns jeden Tag: Warum wir?“, sagt Mirjam.
Der Kummer, der nicht spricht - das Zitat steht ganz am Anfang des „Gedanken- und Mutbuchs“, mit dem die evangelische Klinikseelsorgerin Nicola Neitzel Eltern schwer erkrankter Kinder unterstützen will. Laut Deutschem Kinderkrebsregister erkranken in Bayern jährlich rund 350 bis 400 Kinder bis 18 Jahre neu an Krebs, etwa 50 Kinder im Jahr sterben an der Krankheit. Pfarrerin Neitzel hat erlebt, dass Eltern bei stationären Aufenthalten ihrer Kinder oft wenig Kontakte haben. Privatsphäre gibt es keine in dem durchgetakteten Klinikalltag. Lust auf Begegnungen in der Cafeteria haben viele nicht - die eigenen Sorgen sind groß, da sind schon die Gespräche vom Nebentisch manchmal zu viel. Das zartgelbe Buch mit dem Titel „Ein neuer Tag“ soll, sagt Neitzel, eine Möglichkeit sein, „Gedanken abzulegen, wenn keiner da ist zum Reden“.
Neitzels Projekt hatte viele Unterstützer. Drei Stiftungen, das Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin und eine Buchdruckerei finanzierten das Büchlein in einer ersten Auflage von 200 Stück. Die Schwabinger Ärzte und das psychosoziale Team begrüßen es als Mosaik im ausgeklügelten System der Kinderonkologie. „Alles hier funktioniert nur, wenn die Kinder sich einigermaßen wohlfühlen und wenn die Eltern in ihrer Rolle stabil bleiben“, erklärt Oberärztin Katja Gall. Das Tagebuch könne mit den praktischen Tipps und Impulstexten Struktur in den Alltag bringen. „Und es bringt die guten Momente in die Wahrnehmung - das ist wichtig, denn die gute Nachricht geht bei uns oft unter“, sagt Gall.
Den Fokus trotz der lebensbedrohlichen Diagnose auf das Gute zu legen, ist auch Julia Bilys Ziel. Die Psychologin der Kinderkrebsstation ist immer wieder erstaunt, wie stark viele Kinder sind. Die Eltern seien emotional oftmals bedürftiger: „Es ist für sie schwer auszuhalten, dass sie nichts machen können.“ Die Aufgabe des psychosozialen Teams seien Präsenz und Stabilität: „Wir sind Buddys für die Kinder und auch mal Freundin auf Zeit für die Eltern.“ Ein Tagebuch, das das Gedankenchaos sortieren hilft, könne die Lücke in Momenten des Alleinseins schließen.
Auch für Eltern, denen das Schreiben nicht liegt, hält das Tagebuch einiges bereit: Es gibt Tipps für Sport- oder Entspannungsübungen, die sich im Klinikalltag einbauen lassen, für Fingerspiele, Ausmalbilder und Quatschlieder für die kleinen Patienten oder für Ausflugstipps mit Geschwisterkindern rund um das Krankenhaus.
Für Klinikseelsorgerin Neitzel hat das Büchlein auch noch eine andere Funktion: als Nachschlagwerk für spätere Jahre, wenn der Krebs besiegt ist - oder als Erinnerung, wenn ein Kind gestorben ist. „Bei unseren Gedenkgottesdiensten erfahre ich oft, dass viele Eltern Dinge aus der Zeit der Krankheit als Andenken aufbewahren“, sagt die Pfarrerin.
Auch Mirjam Arzt schätzt das Tagebuch: „Da sind viele praktische Tipps drin, was man mit dem Kind machen kann, wenn einem die Ideen ausgehen“, sagt Benjamins Mutter. Die Denkanstöße aus Literatur und Weltreligionen wiederum helfen ihr, mit der Situation konstruktiv umzugehen. „Die Krebsdiagnose ist die ganz große Katastrophe, die einem als Familie passieren kann“, sagt sie. Dennoch hätten sie und ihr Mann „klar entschieden“, sich das Leben durch Grübelei nicht schwerer zu machen, als es nun mal sei.
Vor Benjamin und seinen Eltern liegt noch ein langer Weg. Bis Mai dauert die Behandlung, danach beginnt das Warten und Bangen erneut: Sind die Krebszellen endgültig besiegt oder kehren sie wieder? Die Nerven zu verlieren, ist für Mirjam Arzt keine Option. „Dieses Leben ist das einzige, das Benjamin hat - wir Eltern sind in der Verantwortung, es für ihn positiv und schön zu füllen.“
Also geht es zwischen Klinik und Chemo mit Fahrrad und Kinderanhänger raus in den Wald, wann immer es möglich ist: Der Kleine hat begonnen zu laufen und erkundet die Welt, wie andere Kinder auch. Und Mirjam Arzt hofft, dass sie in vielen Jahren zu dritt in dem zartgelben Kliniktagebuch blättern und vielleicht noch einmal über das Zitat von Pippi Langstrumpf stolpern: „Der Sturm wird stärker. Ich auch.“