Ausgangslage: Aktuell leben in Deutschland gut fünf Millionen Pflegebedürftige jeden Alters mit einem Pflegegrad. Bis 2055 wird ihre Zahl voraussichtlich um knapp zwei Millionen steigen. 84 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt, davon mehr als die Hälfte allein von Angehörigen ohne professionelle Unterstützung z.B. durch ambulante Pflegedienste.
Zwei Drittel der Pflegenden sind Frauen. Sie pflegen sehr viel häufiger Personen mit erheblichem Pflegebedarf. Sie reduzieren ihre Erwerbstätigkeit stärker als Männer und steigen häufiger ganz aus dem Beruf aus, um Pflegeaufgaben zu übernehmen. Mehr als drei Viertel der pflegenden Angehörigen sind selbst noch im erwerbsfähigen Alter. Zum Teil haben sie neben Beruf und Pflege parallel auch noch Kinder zu betreuen.
Die aktuellen Regelungen zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf (Pflegezeit und Familienpflegezeit) sind unzureichend. Insbesondere eine finanzielle Absicherung, die über die zehn Tage bezahlte Freistellung („Pflegeunterstützungsgeld“) hinausgeht, muss geschaffen werden. Das zinslose Darlehen, das aktuell für Pflegezeiten beantragt werden kann, weist äußerst geringe Nutzungsraten auf. Zudem schließen die gesetzlich definierten betrieblichen Schwellenwerte die Inanspruchnahme der Regelungen für viele Frauen aus, da sie vielfach in klein- und mittelständischen Unternehmen tätig sind.
Im Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ findet sich dazu folgende Vereinbarung: „Wir entwickeln die Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetze weiter und ermöglichen pflegenden Angehörigen und Nahestehenden mehr Zeitsouveränität, auch durch eine Lohnersatzleistung im Falle pflegebedingter Auszeiten.“ (S. 81) Auch der Unabhängige Beirat für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf spricht sich in seinen Empfehlungen zur Familienpflegezeit und zum Familienpflegegeld klar für eine Lohnersatzleistung („Familienpflegegeld“) und die Zusammenführung der Pflegezeiten („Familienpflegezeit“) aus.
Ziel: Pflege ist ein Thema über den gesamten Lebensverlauf hinweg. Sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die auch eine entsprechende Finanzierungsgrundlage erfordert. Sorgearbeit in Gestalt informeller Pflege muss umverteilt werden: Hin zu professionellen Unterstützungsangeboten wie auch zwischen den Geschlechtern. Pflege darf nicht zu erheblichen Einkommenseinbußen während der Erwerbsphase führen und auch keine großen Lücken in der Rente zur Folge haben.
Eine steuerfinanzierte Lohnersatzleistung soll die Einkommensverluste bei pflegebedingter Erwerbsunterbrechung bzw. Reduktion der Arbeitszeit kompensieren und die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf verbessern. Diese Leistung soll zugleich auch ein Anreiz für Männer sein, sich stärker an Pflege zu beteiligen. Klare und unbürokratische Anspruchsregelungen müssen (Teil-)Freistellungen zur Unterstützung von Pflegebedürftigen ermöglichen. Diese sollen verhindern, dass pflegende Angehörige vollständig aus dem Beruf aussteigen (müssen), um Pflege zu leisten.
Die Einführung der Lohnersatzleistung für Pflegezeiten und die Zusammenführung und Vereinfachung der Pflegezeit-Ansprüche müssen dringend von einem bedarfsgerechten Ausbau der professionellen Pflegeinfrastruktur begleitet werden.
Vom Primat der familienbasierten Pflege muss abgerückt werden: Die anstehenden großen Herausforderungen im Bereich Pflege können und dürfen nicht allein durch die Förderung privat geleisteter Sorgearbeit bewältigt werden, da dies insbesondere zulasten der eigenständigen Existenzsicherung und der Gesundheit von Frauen geht. Häusliche Pflege kann nur mit einem bedarfsorientierten Mix aus Angehörigenpflege und professionellen Pflege- und Assistenzangeboten sowie Alltagshilfen sichergestellt werden.
Benötigt werden unbürokratische und bedarfsorientierte Unterstützungsangebote, die von niedrigschwelligen Beratungsstrukturen flankiert werden. Damit soll sichergestellt werden, dass die Regelungen für alle Menschen nutzbar sind.
Notwendige Maßnahmen: Eine Lohnersatzleistung für pflegebedingte Auszeiten bzw. Arbeitszeitreduzierungen ist aus unserer Sicht ein wichtiger Schritt, da sie erwerbstätige Frauen mit Pflegeverantwortung besser absichert und sie im Erwerbsleben hält. Gleichzeitig setzt sie Anreize für erwerbstätige Männer, sich stärker in die Pflege nahestehender Menschen einzubringen. Die faire Verteilung von Pflegeverantwortung zwischen den Geschlechtern wird auch angesichts der steigenden Zahl Pflegebedürftiger immer wichtiger.
Der Unabhängige Beirat schlägt vor, eine Lohnersatzleistung für maximal 36 Monate insgesamt je pflegebedürftiger Person einzuführen. Dies unterstützen wir als ersten Schritt. Aus gleichstellungspolitischer Sicht ist es wichtig, dass es nicht nur eine Hauptpflegeperson gibt, sondern sich mehrere Personen die Pflege teilen können. Geprüft werden muss, mit welchen Maßnahmen und Anreizen mehr Männer dazu gebracht werden, Pflegeverantwortung zu übernehmen. Dies kann einen Beitrag dazu leisten, Geschlechterrollenstereotype zu überwinden.
Der Unabhängige Beirat schlägt vor, die Lohnersatzleistung für pflegebedingte Auszeiten analog zum Elterngeld auszugestalten. Wichtig ist uns dabei die existenzsichernde und sozial gerechte Ausgestaltung. Es sollte aus unserer Sicht einen nicht an eine Erwerbstätigkeit geknüpften Mindestbetrag geben. Für niedrige Einkommen muss es analog eine Aufstockung der Entgeltersatzrate auf bis zu 100 Prozent geben. Eine erhöhte Entgeltersatzrate sollte bis in mittlere Einkommensbereiche reichen. Zudem darf keine Anrechnung des Mindestbetrags der neuen Leistung auf SGB II bzw. Bürgergeld erfolgen. Des Weiteren ist eine Dynamisierung der Leistung vorzusehen, um der allgemeinen Kostenentwicklung zu folgen, dies gilt ausdrücklich auch für eine Obergrenze.
Hinsichtlich der aktuell gegebenen Möglichkeiten zur (Teil-)Freistellung vom Beruf halten wir die bisherige Dauer von maximal24 Monaten für nicht ausreichend und sprechen uns für die bedarfsgerechte Ausweitung von Pflegezeiten aus, die flexibel in Anspruch genommen werden können. Auch den besonderen zeitlichen Bedarfen im Falle pflegebedürftiger Kinder und Jugendlicher muss Rechnung getragen werden.
Als ersten Schritt begrüßen wir den Vorschlag des Unabhängigen Beirats, für pflegende Angehörige je pflegebedürftiger Person einen Anspruch auf maximal 36 Monate Familienpflegezeit einzuführen.Wir unterstützen zudem den Vorschlag des Unabhängigen Beirats:„pflegende Angehörige“ im Sinne pflegender Familienangehöriger und vergleichbar nahestehender Personen, die die Pflege übernehmen, zu definieren.
Aus unserer Sicht muss neben dem Anspruch auf vollständige Freistellung allerdings auch der Anspruch auf Teil-Freistellung im Rahmen einer Pflegezeit unabhängig von der Größe des Betriebes gelten, weil ansonsten ein Großteil der weiblichen Pflegenden die Regelung nicht in Anspruch nehmen kann.
Pflege muss als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden. Um diese Aufgabe gut zu bewältigen, muss an mehreren Stellen angesetzt werden. Auch die gesellschaftliche Verantwortung von Wirtschaft ist an dieser Stelle gefordert. Dringend erforderlich ist zudem vor allem der Ausbau der professionellen Pflegeinfrastruktur.