Berlin (epd). Dem Paritätischen Gesamtverband zufolge müssen 14,2 Millionen Menschen in Deutschland zu den Armen gezählt werden. Die Armutsquote lag im Inflationsjahr 2022 bei 16,8 Prozent und damit 0,1 Prozentpunkte unter der Quote vom Vorjahr, wie aus dem Armutsbericht des Wohlfahrtsverbandes hervorgeht, der am 26. März in Berlin vorgestellt wurde. Der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Ulrich Schneider, nannte die statistischen Befunde „durchwachsen“. Der seit 16 Jahren fast ungebrochene Trend einer stetig wachsenden Armut sei gestoppt, doch längst nicht gedreht, erklärte er.
Auf „einen neuen traurigen Rekordwert“ kletterte Schneider zufolge die Kinderarmut. 21,8 Prozent aller Kinder und Jugendlichen leben danach an oder unter der Armutsschwelle von 60 Prozent des mittleren Einkommens. Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Menschen ohne Bildungsabschlüsse und ohne die deutsche Staatsbürgerschaft sind mit einer Armutsquote von jeweils über 30 Prozent am stärksten betroffen.
Schneider machte zugleich deutlich, dass das Bild vielschichtiger ist, als es auf den ersten Blick wirkt: 70 Prozent der Armen besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft, 60 Prozent haben gute Bildungsabschlüsse, und nur 6 Prozent haben keine Arbeit. Gut ein Drittel der Armen ist erwerbstätig, ein weiteres Drittel sind Rentnerinnen und Rentner.
Wie schon in den vergangenen Jahren sind die regionalen Unterschiede enorm. Am schlechtesten steht das Ruhrgebiet da mit einer Armutsquote von 22 Prozent, die einer Million Menschen entspricht. Zwar liegt Bremen mit einer Quote von 29 Prozent abgeschlagen auf dem letzten Platz aller Bundesländer. Dort leben aber nur 680.000 Menschen, im Ruhrgebiet hingegen mehr als fünf Millionen. Berlin ist vom zweitletzten auf den sechsten Platz des Bundesländer-Rankings aufgerückt.
Deutschland zeigt sich dreigeteilt: Am geringsten ist die Armut in Bayern, Baden-Württemberg und Brandenburg mit dem Berliner Speckgürtel, im Mittelfeld liegen die sechs Länder Sachsen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Berlin, Rheinland-Pfalz und Hessen, während die restlichen sieben Länder vom Saarland bis Hamburg Armutsquoten um 19 Prozent aufweisen.
Der Bericht des Paritätischen „Armut in der Inflation“ basiert auf Daten des Statistischen Bundesamts für 2022. Methodisch wird der relative Armutsbegriff verwendet. Danach gilt ein Haushalt als arm, der über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Bei der Ableitung vom Medianeinkommen bleibt die Armutsschwelle so lange relativ gleich, wie das mittlere Einkommen nicht steigt. Dass die ohnehin einkommensarmen Haushalte 2022 infolge der Energiekrise nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine viel mehr Geld für Lebensmittel, Gas oder Heizöl ausgeben mussten, wird nicht gemessen.
Der Bundesregierung ist es dem Paritätischen zufolge im Inflationsjahr 2022 zudem nicht gelungen, gezielt die Ärmsten zu unterstützen. Nur 2 Milliarden Euro von insgesamt knapp 29 Milliarden Euro an Entlastungsleistungen seien an die Haushalte mit den geringsten Mitteln gegangen. Deutschland hatte 2022 die höchste Inflation seit der Wiedervereinigung. Besonders die Preise für Nahrungsmittel und Energie stiegen rasant um bis zu 20 Prozent (Nahrungsmittel) und bis zu 30 Prozent (Energie).
Die Armutsschwelle lag 2022 für einen Single bei 1.186 Euro im Monat. Für ein Paar mit zwei Kindern unter 14 Jahren betrugt sie 2.490 Euro im Monat, für eine Alleinerziehende mit zwei Kindern lag die Schwelle bei 1.897 Euro. Wer weniger zur Verfügung hat, gilt als arm.
VdK-Präsidentin Verena Bentele kommentiert den Bericht wie folgt: „Mehr als jedes fünfte Kind ist mittlerweile von Armut betroffen. Das ist eine Schande für so ein reiches Land wie Deutschland.“ Der neue Höchststand zeige, dass Hilfen offenbar nicht dort ankommen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Umso wichtiger sei es, dass das System reformiert wird: „Wir brauchen eine gute Kindergrundsicherung, die Kinder wirklich vor Armut bewahrt.“
Weiter sagte die Präsidentin, mit der Kindergrundsicherung, wie sie im Moment geplant sei, könne man die Kinderarmut nicht bekämpfen. Das Ziel, Leistungen zu bündeln und so den Zugang für betroffene Familien zu erleichtern, sei weit verfehlt worden. Verschiedene Leistungen müssten weiterhin bei mehreren Behörden beantragt werden. Und eine vollautomatisierte Auszahlung wird es gar nicht geben. „Wenn wenigstens mehr Geld bei den Familien ankommen würde, wäre das unzureichende Verfahren leichter hinzunehmen. Doch wie es jetzt aussieht, werden Familien - wenn überhaupt - nur sehr wenige Euros mehr im Portemonnaie haben.“ Die Regierung muss laut Bentele dringend nachbessern.
Das dürfte auch Eric Großhaus, Advocacy Manager Kinderarmut und soziale Ungleichheit bei Save the Children Deutschland, begrüßen. Dem Chancenkiller Kinderarmut müsse endlich Einhalt geboten werden.„ Er forderte eine echte Kindergrundsicherung für alle Kinder mit deutlichen Leistungsverbesserungen einerseits. Zudem brauche es eine bedarfsgerechte soziale Infrastruktur zur Armutsprävention andererseits. “Halbgare Lösungen sind schon lange nicht mehr ausreichend." Zudem dürfe es nicht länger Benachteiligungen von geflüchteten Kindern im Asylbewerberleistungsgesetz geben.