Berlin (epd). Gerda Hasselfeldt betont, dass künftig mehr Geld in die Pflege fließen müsse, sowohl im ambulanten wie auch im stationären Bereich. Doch ob das angesichts der Sparbemühungen für den Haushalt 2024 so kommen werde, sei völlig offen, sagt sie im Interview mit epd sozial. Ein Gespräch über Versäumnisse der Politik, radikale Reformansätze, wertschätzende Personalführung und warum Leiharbeit eingedämmt gehört. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Nach der Haushaltssperre des Finanzministeriums wurden die Beratungen im Haushaltsausschuss kurzfristig abgesagt. Noch ist offen, wann der Haushalt für 2024 beschlossen wird. Die Zeichen stehen auf Sparen. Was bedeutet das für die Pflege?
Gerda Hasselfeldt: Vermutlich nichts Gutes, aber abschließend lässt sich das noch nicht bewerten. Klar ist jedoch: Schon heute ist zu wenig Geld im System, um alle Aufgaben, die die Pflege hat, gut zu bewältigen.
epd: Woran zeigt sich das?
Hasselfeldt: Die Pflegeeinrichtungen sind deutlich unterfinanziert. Wenn jetzt zum Beispiel der jährliche Bundeszuschuss von einer Milliarde Euro für die nächsten vier Jahre gestrichen werden sollte, hätte das erhebliche Folgen für unsere ambulanten Dienste und stationären Pflegeeinrichtungen. Zwar sollen vorerst keine Leistungen gekürzt werden, jedoch werden weitere Beitragsanhebungen für die Pflege wahrscheinlicher und die Kostenbelastungen steigen. Der Bundeszuschuss wird benötigt, um die aktuelle Ausgabenlast zu stemmen. Weitere Insolvenzen von Pflegeeinrichtungen könnten die Folge sein. Ein weiteres Problem ist das Thema Arbeitskräftemangel. Deshalb lassen sich längst nicht mehr alle Einrichtungen voll auslasten, oft werden bereits ganze Abteilungen geschlossen. Auch im ambulanten Bereich sinkt die Zahl der Betreuten, denn viele können sich die hohen Eigenbeteiligungen nicht mehr leisten bzw. es werden eigentlich notwendige pflegerische Leistungen reduziert. Die Folge ist, dass die Unwirtschaftlichkeit der Dienste zunimmt.
epd: Allein mehr Geld wird die Probleme kaum lösen ...
Hasselfeldt: Nein, um diese gefährliche Entwicklung zu stoppen, ist weit mehr nötig. Ganz wichtig ist, dass in der Gesellschaft endlich breit diskutiert wird, was uns professionelle Pflege wert ist und wer sie künftig leisten soll. Die Pflege muss als Teil der Daseinsvorsorge und als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden und die Gesellschaft für die Bedarfe pflegebedürftiger Menschen sensibilisiert werden. Aus unserer Sicht können das nicht allein ausgebildete Fachkräfte tun, wir müssen auch die Ehrenamtler, Freunde und Nachbarn von Pflegebedürftigen einbinden und sie für diese Aufgaben qualifizieren. Die Bedeutung der informellen Pflege wird unweigerlich zunehmen. Ferner müssen die ergänzenden Unterstützungsangebote wie die Verhinderungs-, Kurzzeit-, Tages- und Nachtpflege weiter gestärkt und ausgebaut werden. Und wir brauchen eine grundlegende Pflegereform, die die steigenden Kosten für Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen sowie Kundinnen und Kunden in der häuslichen Pflege begrenzt. Andernfalls tickt die Zeitbombe weiter, denn wir wissen, dass die Zahl der Pflegebedürftigen in den nächsten Jahren weiter steigen wird. Der Sozialstaat muss darauf eine Antwort finden, und zwar schnell.
epd: Die Ampel-Regierung scheint das Problem nicht mit Priorität zu betrachten ...
Hasselfeldt: Die sehr akuten Probleme haben nicht die politische Priorität, die sie eigentlich verdienen. Das monieren wir seit langem. Im Durchschnitt müssen schon heute Pflegebedürftige rund 2.500 Euro im Monat zur Versorgung in einer stationären Pflegeeinrichtung zuzahlen, Tendenz steigend. Der Bund sieht wohl auch deshalb keine Notwendigkeit, hier entschieden gegenzusteuern, weil die steigenden Kosten ja nicht den Bundesetat belasten, sondern die Kassen der Pflegeversicherung sowie die der Kommunen oder der Pflegebedürftigen. Das kann es nicht sein. Obwohl sich die Probleme schon seit Jahren immer weiter verschärfen, ist uns beim DRK nichts von weitergehenden Reformplänen aus dem Bundesgesundheitsministerium bekannt.
epd: Welche Reformideen verfolgt das DRK?
Hasselfeldt: Wir sind der Meinung, dass die Eigenanteile der Pflegebedürftigen unbedingt gedeckelt werden müssen. Anders lassen sich die steigenden Kosten für die Betroffenen nicht in den Griff kriegen. Das Stichwort dazu ist der sogenannte Sockel-Spitze-Tausch. Der würde das bisherige Pflegesystem radikal verändern. Dann würde der Heimbewohner für den pflegebedingten Aufwand einen festgelegten Sockelbetrag bezahlen und die Pflegekasse alle darüber hinausgehenden Kosten für die Pflege übernehmen. In welcher finanziellen Größenordnung dann die Eigenanteile liegen würden, müsste von der Politik festgelegt werden, aber so gäbe es mehr Planbarkeit für die Betroffenen.
epd: Die Sozial- und Fachverbände fordern seit Jahren grundlegende Pflegereformen, doch es geht nicht voran. Wie gehen Sie persönlich damit um?
Hasselfeldt: Das ist sehr mühsam, das gebe ich zu. Man braucht eine hohe Frustrationstoleranz, immer wieder erfolglos die gleichen Appelle zu wiederholen, wo doch die Probleme so offen auf dem Tisch liegen. Doch wir können nicht schweigen, wenn die notwendige Lösung auf die lange Bank geschoben wird. Es ist unsere Aufgabe und Verantwortung, auf die entsprechenden Konsequenzen hinzuweisen. Auch wenn es nicht einfach ist, setze ich weiter auf einen großen Wurf, der, so mein Eindruck, auch von großen Teilen der Bevölkerung erwartet wird.
epd: Sie haben im Sommer vier Bundesländer besucht und dort auch mit Beschäftigten in der Pflege über ihre Arbeitssituation gesprochen. Was war da zu hören?
Hasselfeldt: Die Pflegekräfte sprachen von einem schönen Beruf, der wesentlich von hoher Fachkompetenz und menschlicher Zuwendung geprägt sei. Für letzteres fehle aber oft die Zeit, was dann auch zu starker psychischen und physischen Belastung führe. Sie vermissen zudem die breite gesellschaftliche Anerkennung für das, was sie täglich leisten. Oft ist das Arbeitsumfeld mangelhaft, was in der Regel nicht den Trägern anzulasten ist. Die Personaldecke ist schlicht zu dünn, die Arbeit dadurch zusätzlich verdichtet, und oft müssen die Fachkräfte aus ihrer Freizeit oder ihrem freien Wochenende geholt werden. Überstunden können nicht zeitnah ausgeglichen werden. All das führt zu Ärger und Frust und leider nicht selten zu Kündigungen.
epd: Die Ursachen sind also im Personalmangel zu sehen. Doch wie lässt sich dieses Problem lösen? Fachkräfte fehlen überall.
Hasselfeldt: Das stimmt. Und doch sehe ich Wege, zumindest die Engpässe etwas zu schließen. Eine Teillösung ist die Anwerbung von Pflegepersonal aus dem Ausland. Das geschieht noch nicht systematisch genug, und der Prozess der beruflichen Anerkennung dauert mit bis zu zwei Jahren noch immer zu lange, ist arg bürokratisch und mit Aufwand und Kosten für die Pflegeeinrichtungen verbunden. Aber, das sage ich ganz klar, allein mit ausländischem Personal werden wir die Krise nicht bewältigen. Dies kann nur einer von mehreren Bausteinen im Kampf gegen Personalnot sein.
epd: Was wäre noch möglich, vor allem, um kurzfristig den Mitarbeitenden das Arbeiten angenehmer zu machen?
Hasselfeldt: Die Dienstplangestaltung muss verlässlich sein. Dann ist schon viel gewonnen mit Blick auf die Zufriedenheit der Mitarbeitenden. Auch die Einrichtung von Springerpools kann helfen. Hier gibt es schon gute, teilweise trägerübergreifende Ansätze, die sich zu bewähren scheinen. Ich werbe auch für eine echte Entbürokratisierung. Um da voranzukommen, müssen die Pflegenden aus der Praxis mit am Tisch sitzen. Auf ihre Erfahrung und Expertise kommt es an, denn sie wissen, was man an Dokumentation braucht und was am ehesten verzichtbar ist. Auch die Möglichkeiten der Digitalisierung sind noch längst nicht ausgeschöpft. Hier sehe ich Wege zur Entlastung des überlasteten Personals.
epd: Wie ließe sich das Arbeitsklima noch verbessern, ohne dass hohe Kosten entstehen?
Hasselfeldt: Es geht zum Beispiel um wertschätzende Führung, um Teambuilding, um individuelle Karriereplanung mit dem Aufzeigen von Aufstiegsmöglichkeiten, aber auch um mehr Fortbildungsangebote und bessere Gesundheitsprävention. All das führt dann sicher zu einer stärkeren Bindung an das Unternehmen.
epd: Wie bewerten Sie den umstrittenen Einsatz von immer mehr Leiharbeitskräften in der Pflege?
Hasselfeldt: Ich kenne die Probleme, die dadurch entstehen. Häufig ist der Unmut des Stammpersonals groß, wenn Leiharbeitskräfte bessere Bedingungen samt höhere Bezahlung haben. Doch oft lässt sich deren Beschäftigung aufgrund der vielen Personalengpässe in der derzeitigen Lage nicht umgehen. Man sollte auf jeden Fall versuchen, die Leiharbeit einzudämmen. Die Spannungen würden sich in Luft auflösen, wenn es gelingt, die Attraktivität des Berufs nachhaltig zu steigern, die Arbeitsbedingungen positiv zu verändern und die Bezahlung der Stammkräfte weiter zu verbessern . Aber das braucht Zeit.