sozial-Branche

Pflege

Gastbeitrag

Bei Pflegereformen braucht es mehr Mut zum Handeln




Eugen Brysch
epd-bild/Deutsche Stiftung Patientenschutz
Seit Jahren steigen die Eigenanteile für pflegebedürftige Menschen in den Heimen. Zu grundlegenden Reformen konnte sich die scheidende Bundesregierung noch immer nicht durchringen. Für Eugen Brysch, Vorsitzender der Deutschen Stiftung Patientenschutz, ein unhaltbarer Zustand. Im Gastbeitrag für epd sozial beschreibt er, welche Schritte nötig sind. Und zwar umgehend.

Um die heutige Misere in der Pflege zu verstehen, muss man zurückblicken: Nach jahrelangen Diskussionen über Pflegenotstand und steigende kommunale Sozialhilfeausgaben wurde 1994 die Pflegeversicherung in nur wenigen Wochen aus dem Boden gestampft. Das hat bis heute schwerwiegende Folgen. Denn die meisten Knackpunkte aus der damaligen Debatte sind auch nach fast 30 Jahren aktuell.

Gerade die Einführung des Pflegegeldes sollte die häusliche Versorgung stärken ganz nach dem Leitsatz „ambulant vor stationär“. Ebenso ging es um zumutbare Eigenanteile der Pflegeheimbewohner, die besonderen Anforderungen an die Versorgung dementer Menschen, die Aufwertung des Altenpflegeberufs und eine generationsgerechte Lösung. Vieles ist auch nach zig Pflegereformen noch offen.

Kosten für Betroffene steigen weiter

Bis heute fehlen dynamisierende Leistungsbeträge der Pflegekassen. Leidtragende bleiben die Pflegebedürftigen, die immer tiefer in die eigene Tasche greifen müssen. Die Achillesferse ist das Konzept der festen Zuschüsse. Denn im Gegensatz zur gesetzlichen Krankenversicherung werden nur von der Bundesregierung definierte Festbeträge gezahlt. Hier von einer Teilkasko-Versicherung zu sprechen, führt in die Irre.

Angesichts dynamischer Ausgaben ist vorhersehbar, dass immer mehr Leistungsbezieher in die Armut rutschen. Unter diesen Prämissen bleibt es unkalkulierbar, Vorsorge zu treffen. Daran will auch Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) grundsätzlich nichts ändern, obwohl sich die prekäre Lage der rund vier Millionen Pflegedürftigen weiter verschärft. Seit seinem Amtseintritt erhöhten sich die Zuzahlungen für Pflege, Kost und Logis sowie Investitionen um 13 Prozent.

Länder tragen Investitionskosten nicht

Doch die notwendigen Gehaltsanpassungen sind nur ein Aspekt. Hinzu kommt, dass die Länder ihre Verpflichtung oft ignorieren, die Investitionskosten in den Pflegeheimen zu tragen. Die Ära Spahn hat allein den Eigenanteil an den reinen Pflegekosten um mehr als die Hälfte steigen lassen.

Somit sollte es niemanden wundern, dass die Sozialhilfeausgaben für Pflegebedürftige seit 25 Jahren noch nie so hoch waren wie jetzt. Allein 320.000 Pflegeheimbewohner konnten 2019 ihren Platz nicht aus eigener Kraft finanzieren. Da hilft auch nicht, dass durch die Erhöhung der Belastungsgrenze auf 100.000 Euro nur wenige Angehörige zur Kasse gebeten werden. Denn der Pflegebedürftige selbst wird in seinen letzten Lebensjahren geschröpft bis er seine Rechnungen nicht mehr bezahlen kann. Auch die Entlastung von pflegenden Angehörigen bleibt aus.

Pflege und Beruf sind nach wie vor kaum in Einklang zu bringen. Ein ausreichendes, finanzielles Sicherungsnetz für den größten Pflegedienst Deutschlands gibt es nicht. Überfällig ist eine staatlich finanzierte Lohnersatzleistung ähnlich dem Elterngeld.

Tages- und Kurzzeitpflege sind unzureichend

Daneben fehlen viel zu oft praktische Entlastungsmöglichkeiten. Tagespflege, Verhinderungspflege und Kurzzeitpflege sind Mangelware. Die Corona-Pandemie hat diese Situation drastisch verschärft. Statt die dringend benötigte Unterstützung für pflegende Angehörigen auszubauen, sieht der aktuelle Arbeitsentwurf zur Pflegereform hier sogar empfindliche Kürzungen vor. Etwa wenn der Betroffene zusätzliche Hilfe eines ambulanten Pflegedienstes braucht und dafür mindestens die Hälfte seines Pflegekassenzuschusses verwenden muss. Verhindert werden sollen Fehlanreize durch die Kombination unterschiedlicher ambulanter und teilstationärer Leistungen. Tatsächlich träfe dies aber viele Angehörige, die für die Versorgung ihrer Liebsten daheim auf die Unterstützung Dritter angewiesen sind.

Niemand bestreitet, dass Würde wahrende Pflege nur mit fairen Löhnen funktionieren kann. Immerhin versorgen die 1,2 Millionen Altenpflegekräfte täglich 900.000 Menschen in Einrichtungen und eine Million Pflegebedürftige daheim. Doch eine gesetzliche Regelung des bundesweiten tarifähnlichen Lohns darf nicht weiter zu Lasten der Pflegebedürftigen gehen.

Keines der vorliegenden Konzepte der Bundesregierung verhindert das. So würden die aktuellen Pläne pro Pflegeheimbewohner durchschnittlich 130 Euro mehr im Monat bedeuten. Auch die vom Bundesgesundheitsminister geplanten prozentualen Zuschüsse ab dem zweiten Jahr im Pflegeheim helfen nicht. Schließlich stirbt die Hälfte der Heimbewohner schon im ersten Jahr. Selbst für langjährige Pflegebedürftige ist das Zuschussmodell unzumutbar, da keine regelmäßige Anpassung an die davongaloppierenden Personalkosten geplant ist.

Höchstbetrag bei Eigenleistung festlegen

Bundesregierung und Bundestag sind aufgefordert, eine zukunftssichere und generationsgerechte Pflege mit einem gedeckelten planbaren Höchstbetrag für die Betroffenen zu ermöglichen. Notwendig ist, dass die Pflegeversicherung die Pflegekosten vollständig übernimmt. Um Beitragserhöhungen abzufedern, müssen wie bei anderen Sicherungssystemen Steuermittel eingesetzt werden.

Aber auch die gesetzlichen Krankenversicherungen sind gefragt. Denn es ist ungerecht, dass die medizinische Behandlungspflege in den Heimen nicht übernommen wird. Schließlich brächte das jährlich drei Milliarden Euro zusätzlich für die Pflegeversicherung. Wer heute behauptet, mit einem Schnellschuss sei eine zukunftssichere Basis der Pflegeversicherung nicht zu gewährleisten, verkennt die Diskussion der letzten vier Jahre. Viel Zeit ist in dieser Legislaturperiode vertrödelt worden. Erkenntnisse, wie Pflege finanziert werden kann, gibt es mehr als genug. Es fehlt der Mut zum Handeln.

Eugen Brysch ist Vorsitzender der Deutschen Stiftung Patientenschutz