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Armut

Wohnungslosigkeit erreicht Mitte der Gesellschaft




Obdachloser bettelt auf einer Brücke
epd-bild/Rolf Zöllner
Wohnen in Deutschland ist teuer. Viele Menschen finden keinen bezahlbaren Wohnraum, es gibt immer mehr Wohnungslose. Änderungen sind nicht in Sicht, zumal die Probleme der Wohnungslosen komplexer werden. Hilfeeinrichtungen warnen vor einem "Teufelskreis".

Stuttgart/Freiburg (epd). Es ist längst kein Geheimnis mehr: „Wohnungslosigkeit ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, sagte Simone Hahn vom Diakonischen Werk in Freiburg gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd). Wohnungslos sind laut der Beraterin mittlerweile oft auch Menschen, die einmal gut verdient hätten.

Betroffen seien zunehmend auch Familien, weiß Miriam Schiefelbein-Beck von der Wohnungsnotfallhilfe der Caritas in Stuttgart. „Trotz vieler Angebote sind die Zahlen hoch“, sagte sie. 12.413 Menschen wurden bei der Stichtagserhebung 2022 der Liga der freien Wohlfahrtspflege (Stuttgart) in Einrichtungen der Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe unterstützt.

Liga: Rund ein Drittel der Wohnungslosen sind Kinder

„Wohnungslosigkeit ist ein riesiges Problem in Baden-Württemberg“, betonte Simon Näckel, Sprecher des Liga-Unterausschusses Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe. Er spricht von den „höchsten Bedarfszahlen seit Beginn der Erhebung“. Jährlich im Herbst erhebt die Liga Daten zur Zahl der Wohnungslosen im Land. Rund ein Drittel von ihnen seien Kinder und Jugendliche, sagte Näckel. Erschreckend hoch sei mit einem weiteren Drittel die Zahl derer, die seit über zwei Jahren in Unterbringung lebe. „Die Wohnungslosigkeit hat sich bei diesen Menschen verfestigt“, stellte er fest.

Die Zahl der wohnungslosen Menschen ist 2022 bundesweit deutlich gestiegen. Nach den jüngsten Hochrechnungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) lag sie im vorigen Jahr bei 607.000 gegenüber 383.000 im Jahr 2021. Rund 50.000 Menschen lebten danach ganz ohne Unterkunft als Obdachlose auf der Straße.

„Housing First“ als kleiner Lichtblick

Weniger dürften es auch in naher Zukunft kaum werden, vermuten die Berater. Günstige und vor allem kleine Wohnungen sind Mangelware. Für etwas Erleichterung sorgt seit knapp zwei Jahren das Projekt „Housing first“. Bei dem Modell, das in den USA entwickelt wurde und das 2018 in Deutschland in Berlin als Modellprojekt startete, arbeiten Wohnungsnotfallhilfen mit Vermietern zusammen. Die Einrichtungen mieten langfristig Wohnungen an und stellen sie Wohnungssuchenden zur Verfügung.

„Das Projekt läuft bei uns in Stuttgart mit Wohnungsbaugesellschaften gut, mit privaten Vermietern nicht“, sagte Schiefelbein-Beck. Der Bedarf nach Unterstützung bei der Anmietung einer Wohnung ist hoch. „Housing first“ in Stuttgart hat schon einen Aufnahmestopp für seine Warteliste verhängt. „Es gibt in Deutschland zu wenig Sozialwohnungen und Bauen ist zu teuer“, bestätigte Hahn für Freiburg.

Komplexität der Fälle nimmt zu

Den Weg in ein normales Mietverhältnis schaffen viele Wohnungslose nicht ohne professionelle Hilfe. „Die Komplexität der Fälle nimmt zu“, sagte Näckel. Neben Arbeitslosigkeit oder Schulden belasten Wohnungslose oftmals auch gesundheitliche oder psychische Probleme, Sucht oder die familiäre Situation. „Auslöser für Wohnungslosigkeit ist zu 95 Prozent ein Bruch in der Biografie“, weiß Schiefelbein-Beck. Das könne der Tod des Partners sein, die Trennung in der Partnerschaft oder der Verlust des Arbeitsplatzes, führt die Beraterin aus.

„Auch Menschen in höherem Alter leben manchmal noch bei ihren Eltern. Allein können sie sich nach deren Tod die Wohnung nicht mehr leisten“, ergänzt sie. Die Problemlagen sehe man den Leuten an. Nicht selten gerieten sie in einen „Teufelskreis“, so die Beraterin, „weil Wohnungslosigkeit psychische Probleme verstärkt.“ Viele Betroffene hätten kein soziales Netz, weiß sie. Corona habe die Einsamkeit verstärkt. Ängste und Resignation seien die Folge.

Angesichts so vieler Probleme sind selbst die Beraterinnen und Berater oft ratlos. „Die sozialpädagogische Beratung stößt an Grenzen, weil es keine Perspektive gibt“, sagte Hahn. Obdachlosenheime würden immer wichtiger. Gerade jetzt, wenn es kalt wird: „Mit dem Winter drücken die Leute rein“, so die Erwartung von Schiefelbein-Beck.

Susanne Lohse


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