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Gesundheit

Anonyme Alkoholiker: Demut vor der Macht der Sucht




Erster alkoholfreier "Spätkauf"-Laden in Berlin
epd-bild/Rolf Zöllner
Rund 3,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sind Mitglieder in Selbsthilfegruppen - und setzen darauf, Krankheit, Behinderung oder Sucht gemeinsam zu bewältigen. Pioniere waren vor 70 Jahren in München die Anonymen Alkoholiker.

München (epd). Die Geschichte der Anonymen Alkoholiker (AA) in Deutschland beginnt am 31. Oktober 1953 mit einer kleinen Anzeige, die leicht zu übersehen ist. Unter der Rubrik „Was Sie heute wissen müssen“ auf Seite 10 der „Süddeutschen Zeitung“ steht die dürre Nachricht: „Die Vereinigung Alcoholics Anonymous hält morgen, 14 Uhr, im Hotel Leopold ihre erste Versammlung ab.“ Heute gibt es bundesweit über 2.000 AA-Gruppen, die gemeinsam Wege zur Abstinenz suchen. Längst ist die Selbsthilfe auch auf vielen anderen sozialen Feldern nicht mehr wegzudenken.

Werner ist Teilnehmer dieses ersten Treffens in dem unscheinbaren Hotel an der Leopoldstraße in Schwabing: „Es war kurz nach 14 Uhr, als eine Gruppe amerikanischer Soldaten ihr erstes Meeting begann. Etwa 25 Menschen waren gekommen, darunter vielleicht zehn Deutsche“, ist auf der österreichischen Homepage „alk-info.com“ nachzulesen.

Hilfe von den amerikanischen Freunden

„Einer der Amerikaner, sein Name war Bob, erklärte den neuen deutschen Freunden ein Programm, das bereits vielen tausend alkoholkranken Menschen in den USA, Kanada und auch in europäischen Ländern Genesung und Nüchternheit gebracht hatte. Woche für Woche trafen sich zunächst drei deutsche Alkoholiker mit ihren amerikanischen Freunden. Sie hießen Max, Heinrich und Kurt. Bob sprach nur Englisch, und Max übersetzte Satz für Satz“. Möglich wurde die Initiative nur, weil es seit dem 1. November 1953 amerikanischen GIs in Deutschland erstmals erlaubt war, ihre Kasernen in Zivilkleidung zu verlassen.

Richard, der bald nach dem ersten Treffen hinzukam, berichtete von einer schwierigen Startzeit: „Wir waren jetzt sechs Mitglieder. Einen eigenen Meetingsraum hatten wir nicht und trafen uns deshalb wöchentlich in Max' Wohnzimmer. Max, ein arbeitsloser Ingenieur, (...) gehörte zu den wenigen Glücklichen, die beim ersten Kontakt mit den amerikanischen Freunden von der Lebensphilosophie des AA-Programms ergriffen waren. Er blieb trocken und wurde unser Sponsor“, also Leiter der Gruppe. Er starb überraschend im Jahr 1963.

Mehrere große Verbände setzen auf die Selbsthilfe

Dieses „Meeting“ war die Keimzelle einer heute breiten Bewegung von Frauen und Männern, die die Sucht hinter sich lassen wollen und auf dem steinigen Weg zur Abstinenz Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen. Und sie sind nicht die einzigen: Auf Selbsthilfe setzen auch der Kreuzbund, das Blaue Kreuz und der Verein der Guttempler, um nur die großen Träger zu nennen.

Und deren Hilfen werden gebraucht: Laut Bundesgesundheitsministerium liegt bei rund neun Millionen Bürgerinnen und Bürgern zwischen 18 und 64 Jahren ein problematischer Alkoholkonsum vor. In Deutschland starben laut WHO 2016 19.000 Frauen und 43.000 Männer aufgrund von Alkoholismus.

Es waren amerikanische Soldaten, die 1953 die Idee zur Selbsthilfe nach München brachten, um, wie es auf der Homepage der AA heißt, „die Genesungsbotschaft an deutsche Alkoholiker weitergeben zu können“. In den USA waren die christlich-evangelikalen Treffen bereits seit knapp 20 Jahren erfolgreich. Die Gründer waren zwei Alkoholiker, Börsenmakler William Wilson (1895 -1971), der schon mit 20 Jahren Trinker war und mehrere Entzüge abgebrochen hatte, und der ebenfalls alkoholkranke Chirurg Robert Smith (1879-1950). Sie hatten erkannt, dass der Zwang zum Trinken nachlässt, wenn man sich offen in einem geschützten Raum über seine Krankheit unterhält.

AA-Museum in Akron lockt viele Besucher an

Sie gründeten mit anderen Betroffenen 1935 in der Kleinstadt Akron im US-Bundesstaat Ohio die erste Gruppe der Alcoholics Anonymus. Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit ist bis heute der persönliche Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören. Die Gemeinschaft nimmt keine Mitgliedsbeiträge oder Gebühren, sie finanziert sich allein durch Spenden. Die Bewegung wuchs zunächst in den USA, breitete sich weltweit aus und kam mit den US-Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg auch ins besetzte Deutschland.

In Akron erinnert ein vielbesuchtes Museum im einstigen Wohnhaus von Bob Smith und seiner Frau Anne Ripley an die Anfänge. „Viele einst hoffnungslose Alkoholiker, darunter auch Dr. Bob, machten an diesem Ort ihre ersten wackeligen Schritte zur Genesung“, ist auf der Homepage des Museums zu lesen. Hier könne man sich an jene Tage in den 1930er und 1940er Jahren erinnern, „als die Smiths und ihre Besucher über spirituelle Themen sprachen und voller Dankbarkeit darüber nachdachten, wie dramatisch sich ihr Leben durch sie verändert hatte“. Smith schrieb später: „Ich denke, dass die Art von Dienst, die wirklich zählt, darin besteht, sich selbst zu geben, und das erfordert fast ausnahmslos Mühe und Zeit.“ Er soll durch seinen Einsatz 5.000 Alkoholiker zur Abstinenz verholfen haben.

In zwölf Schritten aus der Alkoholsucht

Aus dem in vielen Gesprächen Gehörten entwickelten Wilson und Smith das Therapieprogramm der „Zwölf Schritte“ als Glaubenssätze - eine Art Lebens- und Genesungsgrundlage, die als Buch mit den Erlebnisberichten nun trockener Alkoholiker ein Bestseller wurde. Nach Schätzungen zählen die AA heute zwei Millionen Teilnehmer in 150 Ländern. Die AA standen immer wieder im Ruf, eine religiöse Sekte zu sein. Die Organisation weist das zurück, betont aber ihre konsequente Unabhängigkeit, auch in Sachen finanzieller Unterstützung. Deshalb verbinde man sich auch nicht mit Institutionen und Personen oder äußere sich nicht zu den Streitfragen unserer Zeit.

Doch worin gründet sich deren Erfolg, wie auch der der vielen anderen Initiativen, Krankheiten, Behinderungen oder sozialen Problemen wie Arbeitslosigkeit eigenverantwortlich zu begegnen? Bernhard Borgetto betont in einem Beitrag des „Suchtmagazins“: „Die soziale Unterstützung durch andere AA-Teilnehmerinnen und -teilnehmer spielt eine große Rolle. Zum einen finden Alkoholiker bei den AA positive Rollenmodelle, sie können an sozialen Veranstaltungen der AA teilnehmen, die auf der Grundlage der Alkoholabstinenz stattfinden, und sie können selbst die Rolle des oder der Helfenden einnehmen.“ Und der Medizin- und Gesundheitssoziologe schreibt weiter: „Es gibt Belege dafür, dass die Effekte von Gesprächs-Selbsthilfegruppen mit denen der Gruppenpsychotherapie vergleichbar sind. Sie verringern psychische Störungen und erhöhen subjektive Gesundheit und Lebensqualität.“

Studie bestätigt Wirkung der Selbsthilfe-Gruppen

Eine Analyse des internationalen Forschungsnetzwerkes Cochrane aus dem Jahr 2020 bestätigt die Wirkung der AA-Hilfen. Dazu wurden die Resultate von 27 Studien mit mehr als 10.000 Teilnehmern miteinander verglichen. Das Ergebnis: Die regelmäßige Teilnahme an AA-Treffen half den meisten Alkoholikern wirksamer, dauerhaft abstinent zu bleiben als vergleichbare Behandlungen wie die der kognitiven Verhaltenstherapie. 42 Prozent der AA-Teilnehmer waren noch ein Jahr nach Therapiebeginn trocken. Bei anderen Behandlungsformen wie Verhaltens- und Motivationstherapie waren es etwa 35 Prozent. Der Analyse zufolge hängt der Erfolg im Wesentlichen von den gut geplanten Förderprogrammen ab, die die dauerhafte Teilnahme an AA-Treffen unterstützen.

„Selbsthilfegruppen setzen da an, wo das professionelle Hilfesystem letztendlich nicht mehr weiterkommt oder bereit ist weiterzugehen, also etwa bei chronischen Erkrankungen oder Behinderungen“, sagte der Hamburger Psychologe Christopher Kofahl dem Evangelischen Pressedienst (epd). Es werde Erfahrungswissen weitergegeben, das Ärzte, Pflegekräfte, Therapeuten und Sozialarbeiter nicht haben könnten, weil sie die entsprechenden Erfahrungen nicht gemacht hätten. „Da geht es um Geborgenheit, um das Gefühl, nicht allein zu sein, um gegenseitige psychosoziale Entlastung. Das ist das zentrale Motiv der Selbsthilfe“, so der Vize-Direktor des Instituts für Medizinische Soziologie (IMS) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

Gemeinsam die Abstinenz erreichen

Der Koordinator der Patientenorientierung und Selbsthilfe verwies zudem darauf, dass viele Krankheiten und auch Behinderungen ja nicht behandelbar seien: „Es geht in den Gruppen darum, wie man damit leben kann.“ Ein entscheidender Unterschied zur Suchthilfe: „Hier ist das Ziel die Abstinenz, und die ist ja erreichbar.“

Die AA seien herausragend für alle Patientinnen und Patienten, die sich darauf einlassen können, so der Experte. „Es gibt zwar eine christliche Grundierung, aber man muss nicht unbedingt gläubig sein, um die Sucht zu überwinden. Das Zwölf-Schritte-Programm ist ein Ritual, und die Spiritualität, die da drinliegt, fordert Demut vor der Macht der Sucht, um dann Schritt für Schritt die Sucht in den Griff zu bekommen.“ Die AA-Gruppen seien „Inseln, die helfen, den Alltag zu strukturieren.“ Alkoholsucht sei unglaublich stark und die therapeutischen Erfolge seien ja relativ bescheiden. „Und deshalb können ehrenamtliche Angebote wie die der AA es tatsächlich mit den professionellen Hilfen aufnehmen.“

Dirk Baas