sozial-Branche

Corona-Krise

Selbsthilfe: Damit das "Wir-Gefühl" nicht zerbricht




Schwere Zeiten auch für Alkoholiker: Gruppenangebote finden in Zeiten von Corona nicht statt.
epd-bild/Maike Gloeckner
Selbsthilfegruppen leben vom persönlichen Austausch der Mitglieder, den die Corona-Krise zurzeit verhindert. Ein Umstieg auf Online-Tools ist für einige Gruppen zwar möglich, angesichts von vertraulichen Sorgen und Nöten aber keine Dauerlösung.

Längst ist die Selbsthilfe dabei, neue Wege zu gehen. Denn der klassische Stuhlkreis kommt gerade bei jüngeren Menschen nicht mehr gut an. Es wird mit neuen Formaten experimentiert. Auch soll es künftig vermehrt digitale Angebote geben - nicht nur wegen Corona. "Wir waren gerade dabei, sichere und barrierefreie Tools zu entwerfen, doch die Pandemie hat uns eiskalt erwischt", sagt Martin Danner, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe.

Derzeit nutzen viele Gruppen Standardtools, womit aber große Probleme verbunden sind. Die Videokommunikationsplattform Zoom zum Beispiel steht in der Kritik, weil sie hackeranfällig sein soll. "Das ist heikel, denn in den Gruppen werden sensible Daten ausgetauscht", betont Danner.

Verzicht auf unsicher Tools problematisch

Gruppenleiter stehen deshalb vor einer schwierigen Abwägungsfrage: Sollen sie auf unsichere Tools verzichten? Dann bliebe, nachdem Treffen derzeit nicht möglich sind, nur der schriftliche Austausch im Chat. "Das hat den großen Nachteil, dass die emotionale Seite der Kommunikation verloren geht", sagt Danner. Und in der Selbsthilfe gehe es nun mal sehr viel um Emotionen.

Fragt sich auch, ob die Gruppenmitglieder mit digitalen Techniken überhaupt zurechtkommen. Jüngere Selbsthilfeaktivisten hätten damit sicher kein Problem, sagt der Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft, der zum Beispiel an Gruppen denkt, in denen sich Stotterer oder HIV-infizierte Menschen treffen. Doch gebe es auch andere Probleme: "Bei Parkinson, Rheuma oder Osteoporose ist zum Beispiel das gemeinsame Funktionstraining sehr wichtig." Das fällt nun wegen Corona weithin flach. Das könnte sich nachhaltig negativ auf die Patienten auswirken, warnt der Fachmann.

Keiner übt schon gerne alleine

Alleine zu üben, das machen die meisten Patienten höchst ungern, sagt Friedrich Wilhelm Mehrhoff, Geschäftsführer der Deutschen Parkinson Vereinigung. Die Tendenz, eigenverantwortlich im häuslichen Umfeld Gymnastik zu betreiben, sei bei Parkinsonpatienten, wie bei anderen Menschen auch, "schwach ausgebildet". Mehrhoff bestätigt, dass in der Parkinson-Selbsthilfe höchstens fünf Prozent der Gruppenmitglieder technisch und in puncto Know-how in der Lage seien, online zu kommunizieren. "Die Quote der Gruppenleiter, die internetaffin sind, schätze ich auf 30 bis 40 Prozent", sagt er.

Wenn der Sohn, die Tochter oder ein Nachbar nicht hilft, Online-Tools einzurichten, haben es auch Schlaganfallpatienten schwer, die Live-Kommunikation digital zu ersetzen, betont Thomas Hupp vom Zentrum für Aphasie & Schlaganfall Unterfranken (AZU). Auch bei dieser Patientengruppe handelt es sich vorwiegend um ältere Menschen. Viele kennen sich mit dem Internet nicht aus. Zugleich wäre es für sie sehr wichtig, online miteinander in Kontakt zu treten: Die Betroffenen greifen nicht gern zum Telefon, da ihr Sprachzentrum aufgrund des Schlaganfalls geschädigt ist. Die Aphasie mache es sowohl schwierig, zu sprechen, als auch, Gesprochenes oder Geschriebenes zu verstehen, sagt Hupp.

Keine gute Erfahrungen mit WhatsApp

So manche Selbsthilfegruppe versucht derzeit, über den Messengerdienst WhatsApp in Kontakt zu bleiben. "Meine Erfahrung damit ist allerdings nicht so gut", sagt Bärbl Puls. Die Würzburgerin gründete in ihrer Heimatstadt vor zehn Jahren eine Selbsthilfeinitiative für Menschen, die von Alkohol oder harten Drogen abhängig waren. Viele Mitglieder hätten Angst, die aktuelle Krisenzeit trocken zu überstehen, sagt Puls. Dennoch lehnt sie WhatsApp-Gruppen ab. Die Vorstellung, jemand habe Suchtdruck, schreibe dies in die Gruppe und erhalte dann ungefiltert Ratschläge, etwa, kontrolliert zu trinken, findet sie "sehr gefährlich". Dann besser zum Telefon greifen.

Wer in der aktuellen Situation auf Mailkontakt, Chat und Videokonferenzen setze, könne eine "völlige Isolation" chronisch kranker Menschen vermeiden, sagt Andreas See, der 2016 eine erste Selbsthilfegruppe für Menschen mit Depression im Raum Hamm gründete. Der selbstständige IT-Dienstleister aus Westfalen verweist auf eine weitere Gefahr: "Es kann sich schnell eine Form der digitalen Abhängigkeit entwickeln." Die Folgen wären in kürzester Zeit sichtbar: "Es droht soziale Isolation durch einen Rückgang an realen sozialen Kontakten sowie im schlimmsten Fall der soziale Abstieg bis hin zu einem Suizid."

Pat Christ


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