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Interview

Pflegeökonom Rothgang: "Dann kommt schnell eine Abwärtsspirale"




Heinz Rothgang
epd-bild/David Ausserhofer
Die stationäre Altenpflege ist von einer Insolvenzwelle gebeutelt. Zwar seien die Heim-Pleiten allein für die Versorgung noch nicht gravierend, sagt der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang. Dennoch sei die Situation schlimm.

Bremen (epd). Viele Pflegeheimbetreiber geraten nach Informationen des Bremer Gesundheitsökonomen Heinz Rothgang wegen der schlechten Zahlungsmoral von Sozialhilfeträgern in Schwierigkeiten. „Es gibt zig Millionen Rückstände“, sagte Rothgang im Interview. Das bringe Einrichtungen an den Rand des Ruins. Außerdem bräuchten die Heimbetreiber mehr Flexibilität bei den Pflegesatzverhandlungen. Ein Gespräch über Personalmangel, die schlechte Zahlungsmoral von Kostenträgern und Lösungswege. Mit Rothgang sprach Dieter Sell.

epd sozial: Herr Professor Rothgang, wo sehen Sie die Gründe für die Insolvenzwelle im stationären Pflegebereich?

Heinz Rothgang: Da kommen viele Faktoren zusammen. An erster Stelle steht wahrscheinlich Personalmangel. Wenn ich als Einrichtung zu wenig Pflegekräfte habe und deshalb Kapazitäten stilllegen muss, stimmt meine Kalkulation nicht mehr. Die in Schwierigkeiten geratene Convivo-Unternehmensgruppe beispielsweise hatte am Ende in Bremen eine Belegung von unter 75 Prozent. Vereinbart werden in Pflegesatzverhandlungen aber in der Regel Werte oberhalb von 95 Prozent. Jeder ungeplante Leerstand führt zu Defiziten bei der Refinanzierung der Gemeinkosten und der Investitionskosten. Die Einrichtungen, die knapp kalkuliert haben - das sehen wir häufig bei Pflegeketten -, sind da stärker betroffen. Wenn Personal wegbricht und die Kalkulation total auf Kante genäht ist, droht eine Stilllegung von Teilkapazitäten durch die Heimaufsicht und damit Defizit. Wird alternativ Leiharbeit eingesetzt, entstehen aber auch Defizite, da diese viel teurer ist und nicht refinanziert wird. Personalunterbesetzungen wiederum können dazu führen, dass weiteres Personal das Heim verlässt. Dann kommt die Einrichtung schnell in eine Abwärtsspirale.

epd: Gibt es noch weitere Risiken?

Rothgang: Das waren neben der allgemeinen Inflation im vergangenen Jahr vor allem Indexmietverträge. Große Ketten besitzen die Immobilien ja häufig nicht, sondern haben sie gemietet. Und diese Mietverträge sind oft per Index an die Inflation gekoppelt. Wenn wir wie 2022 teilweise zweistellige Inflationsraten haben, aber beispielsweise nur zwei Prozent Steigerung in die Kalkulation eingestellt sind, ist das ein großes Problem - insbesondere, wenn die Kostenträger nicht zeitnah nachverhandeln wollen. Und natürlich gibt es auch Managementfehler und strategische Marktbereinigungen. So werden in den großen Ketten unter Kostendruck einzelne Einrichtungen, die sich nicht mehr tragen, geschlossen, um die ganze Kette zu stabilisieren.

epd: Vor diesem Hintergrund: Wie schlimm ist die Lage denn jetzt wirklich?

Rothgang: Noch ist die Zahl der Plätze begrenzt, die durch Pleiten verloren gehen. Eine Kollegin hat nachgezählt und für die ersten vier Monate des Jahres 700 Plätze ermittelt, die wirklich verloren gegangen sind. Bei mehr als 700.000 Plätzen, die wir in Deutschland haben, ist das weniger als ein Promille. Hintergrund ist, dass eine Pleite in der Mehrzahl der Fälle nicht zu einer verloren gegangenen Versorgung führt - auch wenn sich die Situation in jüngster Zeit nochmal zugespitzt hat. In Bremen beispielsweise bei Convivo waren 500 Plätze betroffen, die inzwischen fast alle unter anderer Leitung weiterbetrieben werden. Das heißt: Beim Eigentümerwechsel verschwinden die Kapazitäten vielfach nicht. Schlimmer wäre es, wenn jede Einrichtung wegen Personalmangels auch nur einen Platz unbesetzt lässt. Das wäre mehr als ein Prozent der Kapazitäten, die uns fehlen würden.

epd: Also gar nicht so schlimm?

Rothgang: Die Pleiten alleine sind für die Versorgung gar nicht so schlimm. Aber sie sind ein Anzeiger für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Anbieter. Zusammen mit den Leerständen, die wir in Einrichtungen haben, fehlenden Neubauten, die wir seit Jahren haben, ist die Lage aber auch für die Versorgungssicherheit schon schlimm. Wir haben bereits eine unzureichende Versorgung, und das nicht nur im stationären Bereich, sondern auch in der häuslichen Pflege. Ambulante Pflegedienste fangen an zu optimieren, indem sie manche Pflegebedürftige nicht mehr versorgen. Klienten beispielsweise, die weiter weg wohnen, werden gar nicht mehr aufgenommen. Dazu kommt, dass die Anpassungen der Pflegeversicherungsleistungen die Inflation nicht ausgleichen. Wir haben also in Wirklichkeit einen permanenten Realwertverlust der Versicherungsleistungen. Bei gleicher Inanspruchnahme würde dies zu steigenden Eigenanteilen der Klienten führen. Das machen die meisten Anbieter in der häuslichen Pflege aber nicht. Stattdessen werden die Leistungen reduziert: statt drei Einsätzen nur noch zwei in der Woche. Der Realwertverlust der Pflegeversicherungsleistungen kann so zu Versorgungsdefiziten führen.

epd: Wie könnte man das Thema Fachkräftemangel denn angehen?

Rothgang: Wir haben in Deutschland schon einiges getan, aber immer nach dem Motto: zu spät und zu wenig. Zunächst aber noch etwas Grundsätzliches: Sie reden vom Fachkräftemangel, ich spreche inzwischen vom Pflegekräftemangel. Bisher ging es in der Diskussion immer nur um die Fachkräfte, die Assistenzkräfte mit ein- und zweijähriger Ausbildung wurden komplett vernachlässigt. Der Mangel bezieht sich inzwischen aber auch auf diese Personengruppe. Die gute Nachricht ist, dass hier schneller etwas getan werden kann. So können wir den Personen, die in der generalistischen Ausbildung gescheitert sind, den Weg in einen Pflegeassistenzberuf ebnen, damit sie der Pflege nicht verloren gehen.

Im stationären Bereich führt die sukzessive Einführung des Personalbemessungsverfahrens dazu, dass sich der Personalmehrbedarf vor allem auf Pflegekräfte mit ein- und zweijähriger Ausbildung bezieht: Durch Weiterqualifikation der bisher Ungelernten und durch mehr Ausbildungsplätze kann hier auch kurzfristiger mehr erreicht werden als bei den Fachkräften. Grundsätzlich brauchen wir mehr Wege, damit sich Pflegekräfte schnell berufsbegleitend weiterqualifizieren können, ohne dass die Träger oder die Einrichtungen dafür zahlen müssen. Da würde ich mir vorstellen, dass die Bundesagentur für Arbeit stärker als bisher unterstützt.

epd: Was ließe sich bei der Refinanzierung besser machen?

Rothgang: Eine ganz einfache und triviale Sache: Die Sozialhilfeträger müssen ihre Rechnungen bezahlen, und zwar zügig. Es gibt zig Millionen Rückstände, weil Sozialhilfeträger genau das nicht getan haben, was dann Einrichtungen an den Rand des Abgrunds bringt. Dazu kommt: Wir brauchen mehr Flexibilität bei den Pflegesatzverhandlungen. Wenn die Kosten aufgrund der unerwarteten Inflation explodieren, kann man nicht sagen, die nächsten Verhandlungen sind in einem Jahr. Da haben die Kostenträger einfach gemauert. Und wenn wegen Personalmangel absehbar ist, dass ich bestimmte Belegungen auch im nächsten Jahr nicht erreichen kann, dann müssen wir die Kalkulation anpassen, mal nur 90 Prozent Belegung vereinbaren.

Zentral für Pflegeheime wird sein, die Spielräume, die die neuen Personalobergrenzen schaffen, so schnell und umfassend wie möglich auszuschöpfen. Denn klar ist doch: Wenn ich als Einrichtung mehr Personal habe, das aufgrund der gesetzlichen Personalobergrenzen ja refinanziert werden muss, habe ich weniger Stress in meiner Belegschaft. Dann verlassen weniger Pflegekräfte die Einrichtung und den Beruf, und es kann der Teufelskreis aus zu wenig Personal, daraus resultierender Überforderung und daraus folgendem Ausscheiden von Pflegekräften aus dem Beruf durchbrochen werden.