sozial-Branche

Psychiatrie

Horten, bis die Wohnung aus allen Nähten platzt




Wohnung eines Messies
epd-bild/Pat Christ
Wer die Wohnung eines Messies betritt, ist geschockt: Räume sind zugestellt mit überflüssigen Gegenständen. Essensreste liegen herum und riechen. Menschen mit dem Messie-Syndrom brauchen Hilfe. Ihre Zahl wird auf bundesweit drei Millionen geschätzt.

Frankfurt a. M. (epd). In einer Zimmerecke stapeln sich Wasserkanister. Die ganze Wand ist zugestellt. Auch Lebensmittel liegen überall in der Wohnung herum. Hier hat sich jemand eingebunkert. Aus Angst, dass es irgendwann kein Wasser und nichts mehr zu essen gibt. Was die Klientin des Vereins „Fortis“ tat, hat sie jedoch nicht nur aus Angst getan: Sie leidet am Messie-Syndrom.

Wohnung versinkt im Chaos

Der vor mehr als 50 Jahren gegründete Verein „Fortis“, Mitglied im Diakonischen Werk Württemberg, hat mit Menschen zu tun, die ihre eigenen vier Wände im Chaos versinken lassen. In jüngster Zeit stiegen die Zahlen stark an, sagt Joachim Schönstein, der die gemeindepsychiatrischen Hilfen von „Fortis“ in Leonberg leitet: „Bisher hatten wir oft nur 5, höchstens 10 Klienten mit dieser Problematik, im Augenblick sind es 17.“ Die aktuellen Krisensituationen spielen nach seiner Einschätzung bei der Zunahme mit hinein.

Wer Messies helfen wolle, müsse mit Feingefühl zu Werke gehen, sagt Schönstein. Denn das Thema sei extrem schambesetzt. Wer will schon fremde Menschen in seine Wohnung lassen, wenn diese vermüllt und verdreckt ist? Das Team von „Fortis“ fährt deshalb mit einem neutralen Auto zu seinen Klienten. Jeder erscheint in unauffälliger Alltagskleidung. Nie werden riesige Mengen auf einmal aus der Wohnung getragen. Die Nachbarn, erklärt Schönstein, sollen nicht mitbekommen, warum die Räumungshelfer von „Fortis“ anrücken.

Bei den Betroffenen handle es sich oft um Menschen mit seelischen Leiden, erläutert der Familientherapeut: „Unsere Klienten haben zum Beispiel häufig die psychische Störung ADHS.“

„Gegenstände ersetzen Beziehungen“

Die Corona-Krise habe sich negativ ausgewirkt. So hätten Menschen in der Zeit, in der sie sehr viel zu Hause waren, noch mehr als sonst im Internet bestellt. „Dadurch ist viel zusätzliches Material in die Wohnungen gekommen.“ Gegenstände, erläutert Schönstein, haben für Messies eine wichtige Funktion: „Sie ersetzen Beziehungen.“ In der kontaktarmen Corona-Zeit sei diese Funktion noch wichtiger geworden.

Bei Dominikus Bönsch, Klinikpsychiater im unterfränkischen Lohr, landen immer wieder Menschen, die horten, was sie in die Finger bekommen. „Wir hatten jedes Jahr bis zu 30 Patienten, deren Wohnungen zwangsgeräumt werden mussten“, berichtet der Psychiatrieprofessor. Das Messie-Syndrom trete „meist in Kombination mit Zwangserkrankungen oder Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis“ auf.

Nach seiner Einschätzung hat die Problematik „deutlich zugenommen“. Es sei allerdings schwierig, „dies mit Zahlen zu untermauern“. Was daran liegt, dass die internationale ICD-10-Klassifikation von Krankheiten die Diagnose „Messie-Syndrom“ nicht aufführt. Nach Bönschs Ansicht wurden in der Corona-Krise die Auswirkungen der politisch angeordneten Maßnahmen auf psychisch kranke Menschen zu wenig beachtet.

Die Hälfte des Fensters verdeckt

„Manchmal genügt ein einziger Schicksalsschlag, und man wird zum Messie“, sagt Maria Andrea Hüttinger, die Vorstandsvorsitzende des Berliner Vereins „Freiraum Ordnungshilfe“. Sie hat schon viele vermüllte Wohnungen gesehen. In manche Wohnungen komme kaum noch Licht hinein, berichtet sie, denn „die Hälfte des Fensters ist verdeckt“.

Wochenlang kam offensichtlich niemand mehr auf die Idee, die Brösel vom Tischtuch zu schütteln. Der Abfall quillt über. Es riecht schrecklich. „Manchmal muss ich gegen Brechreiz ankämpfen“, schildert Hüttinger ihre Erlebnisse.

15 Männer und Frauen werden derzeit von 5 „Messie-Helfern“ des Vereins begleitet. „Meist geschieht dies über ein ganzes Jahr hinweg“, sagt Hüttinger. Weil es sich bei den Betroffenen um Menschen mit seelischer Beeinträchtigung handelt, werden die Ordnungshelfer in aller Regel über die Eingliederungshilfe finanziert.

Extrem großer Druck

„Manche Messies können nicht mehr in ihrem Bett schlafen, sie legen sich davor auf den Boden“, berichtet Michael Schröter, Gründer der ersten deutschen Messie-Akademie in Gauting bei München. Der 71-Jährige befasst sich seit 20 Jahren mit dem Messie-Syndrom. Aus seinem ersten Messie-Hilfe-Team sind inzwischen 20 bundesweit aktive Hilfstrupps geworden. Schröter schätzt die Zahl der Messies in Deutschland auf „mindestens drei Millionen Menschen“. Offizielle Zahlen gibt es nicht.

Messies suchen laut Schröter in der Regel erst dann Hilfe, wenn der Druck extrem groß geworden ist: „Es kann zum Beispiel sein, dass Handwerker wegen eines Wasserrohrbruchs in die Wohnung kommen müssen.“ Manchmal droht auch der Verlust der Wohnung. „Im allerbesten Fall schaffen wir es, dass eine bereits ausgesprochene Kündigung durch unsere Hilfe wieder zurückgenommen wird.“

Pat Christ