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Ehrenamt

Gastbeitrag

"Vielfalt der Freiwilligendienste ist in Gefahr"




Birgitta Kelbch
epd-bild/Nicole Cronauge/Bistum Essen
In Deutschland leisten jährlich 100.000 Menschen einen Freiwilligendienst. Nun hat die Bundesregierung angekündigt, die Fördermittel für das Jahr 2024 um 78 Millionen Euro zu kürzen. Welche Konsequenzen das hat, beschreibt Birgitta Kelbch, Leiterin der Freiwilligendienste im Bistum Essen, in ihrem Gastbeitrag für epd sozial.

Essen (epd). Die geplanten Kürzungen bedeuten bundesweit Einschnitte in Höhe von fast 25 Prozent der bisherigen Mittel im Bereich der Freiwilligendienste. 2025 sollen weitere 35 Millionen Euro eingespart werden. Mit diesen voraussichtlichen Mittelkürzungen wird 2024 jeder vierte Platz in den Freiwilligendiensten wegfallen - 2025 sogar jeder dritte. Bei uns im Bistum Essen würden schon im nächsten Jahr 85 von derzeit 350 Plätze gestrichen, in NRW wären 5.800 Plätze betroffen und bundesweit sogar über 27.000 Plätze. Damit können die Freiwilligendienste in der Menge und der Vielfalt, wie wir sie bisher kennen, nicht mehr angeboten werden.

Befürworter der Einsparungen argumentieren, dass die Zahlen der Bewerberiinen und Bewerber jährlich stark schwanken. Aber so einfach ist es nicht. Je nach Einsatzbereich, Kommune oder Region, sowie auch nach Jahrgang stellt sich die Situation sehr unterschiedlich dar. Oft scheitert das Engagement junger Menschen nicht am Interesse, sondern an großen Hürden, die nur durch politische Entscheidungen überwunden werden können. Wer vom Taschengeld in Höhe von maximal 438 Euro, plus einer möglichen Verpflegungspauschale eine Wohnung in der Nähe des Einsatzortes, eine Fahrkarte für den öffentlichen Nahverkehr und den Lebensunterhalt bezahlen muss, kann sich einen Freiwilligendienst nicht leisten.

Eigentlich braucht es mehr Geld für weitere Stellen

Daraus folgt: Um jungen Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen einen Freiwilligendienst zu ermöglichen, müsste die Politik anstelle von Kürzungen deutlich mehr finanzielle Mittel bereitstellen. Das ist ein unabdingbarer Grundstein, damit die Freiwilligendienste auch eine gesellschaftliche Wertschätzung erfahren, die angemessen ist.

Wenn Freiwilligendienste wegfallen, werden unseren Wohlfahrtsverbänden und damit der ganzen Gesellschaft langfristig engagierte Menschen fehlen, die während ihres Dienstes eine erhöhte Wertschätzung für soziale und kulturelle Berufe entwickeln. Zudem bringen gerade junge Menschen mit ihren individuellen Kompetenzen neue Impulse und frischen Wind in die Einsatzstellen, entlasten oft die Fachkräfte durch ergänzende Tätigkeiten und bereichern den Alltag der vielen Menschen, um die sie sich kümmern.

Je nach Dienstverlauf und persönlichem Interesse gelingt es in den Einsatzstellen vielfach, Freiwillige auch langfristig zu binden. Das kann über eine Weiterbeschäftigung während des Studiums, über ehrenamtliches Engagement oder über eine Ausbildung direkt im Anschluss geschehen. Viele Freiwillige bleiben erfahrungsgemäß den Einsatzstellen über ihren Dienst hinaus eng verbunden und circa die Hälfte aller Dienstleistenden entscheiden sich für eine Ausbildung oder ein Studium im sozialen Bereich. Nicht selten sind ehemalige Freiwillige Jahre später in genau den Einrichtungen und Diensten tätig, die sie zuvor unterstützt haben - und leiten dort selbst mit großem Engagement neue Freiwillige an.

Dienste helfen beim Erlernen partizipativer Strukturen

Über die berufliche Perspektive hinaus zeigt unsere Erfahrung, dass ein sozialer Dienst beim Erlernen demokratischer und partizipativer Strukturen hilft und bürgerschaftliches Engagement stärkt. Auch Inklusion ist in den Freiwilligendiensten bereits gelebte Praxis. Gerne würden wir den Einsatz von Freiwilligen mit Behinderungen oder sozialen Problemlagen sowie aus finanziell schwächeren Elternhäusern oder vielfältigen Familienkonstellationen weiter ausbauen. Als Träger müssen wir die finanziellen Möglichkeiten haben, dass sich alle Menschen orientieren, schulisch oder beruflich neu aufstellen und ihre individuellen Fähigkeiten entwickeln können, denn der Freiwilligendienst ist geeignet, alle Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen und gesellschaftlich integrativ zu wirken. All das steht mit den angekündigten Einsparungen im Bundesetat auf dem Spiel.

Sollten die in Aussicht gestellten Kürzungen kommen, müssen sich die Träger der Freiwilligendienste mit den Wohlfahrtsverbänden und Jugendverbänden darauf einstellen, dass wesentlich weniger Plätze zur Verfügung gestellt werden und dass vor Ort entschieden werden muss, in welchen Tätigkeitsfeldern konkret die Freiwilligen fehlen werden. Ob das in der Ergänzung der Pflege oder in Betreuungsdiensten sein wird, in Kindertagesstätten, offenen Ganztagsgrundschulen, Jugendverbänden oder der Eingliederungshilfe. Wie bei unseren Freiwilligendiensten im Bistum Essen wird das bei jedem Träger zu diskutieren sein.

Individuelle Begleitung der Freiwiligen wird leiden

Für die Träger bedeutet eine Mittelkürzung aber auch eine drohende Personalkürzung. Das hat zur Folge, dass Freiwillige weniger individuell begleitet werden können, insbesondere in Krisenzeiten oder bei Orientierungsfragen. Jedoch genau in diesen Bereichen haben junge Menschen größeren Beratungs- und Unterstützungsbedarf, unter anderem in Folge von individuell erlebten Einschränkungen in Zeiten der Corona-Pandemie. Die pädagogische Begleitung der Freiwilligen außerhalb der Seminarzeiten müsste damit in den Einsatzstellen geleistet werden oder in der bisherigen Qualität wegfallen.

Inflationsbedingt sind gleichbleibende Fördermittel für die Träger derzeit schon eine große Herausforderung. Sollten die Mittel, wie angekündigt, gar massiv gekürzt werden, so demontiert die Bundesregierung eine erfolgreiche Orientierungs-, Bildungs- und Berufsfindungszeit in bewährten Formaten. Anstatt über einen allenfalls langfristig umsetzbaren und viel teureren Pflichtdienst für junge Leute zu diskutieren wäre es ein wichtiger Dienst an der gesamten Gesellschaft, die lange etablierten Freiwilligendienste nicht einzuschränken, sondern sie im Gegenteil weiter auszubauen.

Birgitta Kelbch ist Leiterin der Freiwilligendienste im Bistum Essen