Frankfurt a.M. (epd). „Pflege darf nicht arm machen“ - unter diesem Slogan wirbt ein Bündnis großer Sozial-, Wohlfahrts- und Pflegeverbände seit einigen Wochen für eine Radikalreform in der gesetzlichen Pflegeversicherung. Denn, so ihr Hinweis: Immer mehr Menschen können sich die stationäre Pflege nicht mehr leisten und werden von der Sozialhilfe abhängig. Laut dem Bündnis, dem unter anderem der DGB, der Sozialverband Deutschland, der Paritätische Wohlfahrtsverband, die Volkssolidarität und die Arbeiterwohlfahrt angehören, trifft das heute bereits für ein Drittel der Heimbewohner zu.
Grund dafür sind laut den Reformbefürwortern Konstruktionsfehler in der 1995 eingeführten Pflegeversicherung als „Teilkaskoversicherung“. Sie sollte das Risiko der Pflegebedürftigkeit eigenständig absichern und die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen von Kosten entlasten, dabei aber die Finanzierung über Pflichtbeiträge, insbesondere die Belastung der Arbeitgeber, in engen Grenzen halten. Daher wurde sie als eine Teilkostensicherung konstruiert. Deshalb, und das war politisch so gewollt, tragen die Leistungen bis heute nur ergänzenden Charakter.
Daraus folgt: Pflegebedürftige müssen nach wie vor einen erheblichen Eigenanteil ihrer Pflegekosten selbst tragen. Dieser hat sich, wie jetzt aktuelle Zahlen des Verbands der Ersatzkassen (vdek) zeigen, ständig erhöht - auch weil die Anhebung von Leistungen durch die Pflegekasse nicht mit der realen Kostenentwicklung Schritt gehalten hat.
Ende Juni, kurz vor dem Inkrafttreten der jüngsten Pflegereform, trat das Bündnis mit seinem Aufruf an die Öffentlichkeit. Die heutige, als eigenständiger Sozialversicherungszweig eingeführte Pflegeversicherung verfehle ihren Zweck - was eine grundlegende Neuausrichtung der Pflegeversicherung nötig mache.
„Eine langfristig wirksame, tragfähige und für alle verlässliche Lösung bietet einzig eine Vollversicherung in der Pflege“, heißt es in dem Aufruf. Eine solche Vollversicherung müsse alle pflegebedingten Kosten übernehmen - unabhängig davon, ob es sich um stationäre oder ambulante Pflege handele: „Sämtliche durch einen unabhängigen pflegerischen-medizinischen Dienst für bedarfsgerecht erachtete Pflegeleistungen müssen in vollem Umfang und ohne Eigenanteile vollständig von den Kassen finanziert werden.“
Neue Argumente für diese Forderung lieferten jüngst aktuelle Daten zu den Eigenanteilen in Heimen. Wer einen Heimpflegeplatz braucht, muss aktuell mit einem Eigenanteil von 2.548 Euro pro Monat rechnen. Im Bundesdurchschnitt lagen die Preise für das erste Jahr im Heim um 348 Euro über denen des Vorjahres, wie der vdek mitteilte. Im zweiten Jahr werden 292 Euro mehr fällig, im dritten Jahr 236 Euro und nach drei Jahren 165 Euro.
Die Staffelung hat damit zu tun, dass die Pflegekassen seit 2022 mit der zunehmenden Aufenthaltsdauer steigende Zuschüsse zu den Pflegekosten zahlen, die die Bewohner selbst tragen müssen. Heimbewohner zahlen jedoch nicht nur für ihre Pflege den Teil der Kosten selbst, der nicht durch die Pflegeversicherung abgedeckt ist, sondern auch für Unterkunft, Verpflegung, Investitionskosten und einen Anteil für die Bezahlung der Auszubildenden in der Pflege. So kommen hohe Zuzahlungen zustande: Für Unterkunft und Essen werden im Bundesdurchschnitt 888 Euro im Monat berechnet. Die Investitionskosten der Anbieter betragen laut vdek-Daten im Bundesdurchschnitt 477 Euro. Für diesen Anteil müssten eigentlich nicht die Pflegebedürftigen aufkommen, sondern die Bundesländer.
AWO, Paritätischer und ihre Mitstreiter sind überzeugt: „Wenn alle pflegebedingten Kosten künftig von der Pflegeversicherung übernommen und die Ausbildungskosten als gesamtgesellschaftliche Aufgabe aus Steuermitteln finanziert würden - wie im Koalitionsvertrag vereinbart -, halbierten sich die von den Pflegeheimbewohnern selbst aufzubringenden Kosten.“
Kathrin Sonnenholzner, Präsidentin der Arbeiterwohlfahrt, sagte, man müsse „endlich weg von kosmetischen Reförmchen hin zu einem echten Systemwechsel - und zwar sofort“. Sebastian Wegner, Bundesgeschäftsführer der Volkssolidarität, betonte, die Pflegevollversicherung sei nötig, „um gesamtgesellschaftlich und solidarisch dem Armutsrisiko durch Pflegebedürftigkeit entgegenzutreten und so einen sozialen Ausgleich zu schaffen.” Und Michaela Engelmeier, Vorstandsvorsitzender des Sozialverbandes Deutschlands, verwies darauf, dass die Eigenanteile in der stationären Pflege schon heute die Durchschnittsrente in Deutschland um mehr als das Doppelte überschritten: “Das können immer weniger Pflegebedürftige bezahlen."
Wenn die pflegebedingten Kosten vollständig übernommen würden, müssten im Durchschnitt für Kosten für Unterkunft und Verpflegung sowie Investitionskosten noch 1.413 Euro bezahlt werden und im Jahre 2026 mit 1.511 Euro etwas mehr. Das hat der Paritätische Wohlfahrtsverband ausgerechnet.
Das Bündnis schlägt vor, zur Finanzierung der Vollversicherung den gesetzlichen und den privaten Zweig der Pflegeversicherung zusammenzuführen und als sogenannte Bürgerversicherung auszugestalten. Auch die Kosten der vorgeschlagenen Reform hat das Bündnis von Expertinnen und Experten berechnen lassen. Danach müsste, basierend auf dem Referenzjahr 2017, für ein Vollversicherungsmodell 8,5 Milliarden Euro mehr ausgegeben werden als heute. Das würde eine Steigerung des Beitragssatzes um 0,61 Prozent erforderlich machen. Oder, so das Bündnis, mehr Steuergelder müssten in die Pflegekasse fließen. .