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Pflege

Gastbeitrag

24-Stunden-Betreuung: Bundesregierung muss Rahmen setzen




Claudia Engelmann
DIMR/Barbara Dietl
In Deutschland arbeiten bis zu 700.000 Menschen in der sogenannten 24-Stunden-Betreuung in Privathaushalten. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat deren Arbeits- und Lebenssituation untersucht. Im Gastbeitrag für epd sozial erläutert Claudia Engelmann, wie die Situation der Frauen verbessert werden kann.

Im Juni 2021 entschied das Bundesarbeitsgericht in einem wegweisenden Urteil: 24-Stunden-Betreuung bedeutet 24 Stunden Mindestlohn am Tag. Geklagt hatte eine Frau aus Bulgarien, die als sogenannte Live-in eine pflegebedürftige Frau in deren Privathaushalt rund um die Uhr gepflegt hatte. Dafür hatte sie lediglich Lohn für sechs Arbeitsstunden am Tag erhalten. Das Urteil war ein Novum, doch der Fall der bulgarischen Live-in ist kein Einzelfall, sondern steht exemplarisch für die Arbeits- und Lebensbedingungen in der häuslichen Betreuung.

Nach Schätzungen der Beratungsstellen arbeiten in Deutschland 300.000 bis 700.000 sogenannte 24-Stunden-Betreuungskräfte. Sie versorgen, pflegen und betreuen ältere, oft pflegebedürftige Menschen in Privathaushalten und leben auch dort. Überwiegend sind die Frauen aus Polen, Bulgarien und Rumänien, aber auch aus anderen osteuropäischen EU-Staaten und Drittstaaten.

Ausufernde Arbeitszeiten und unbezahlte Arbeit

Die Kernprobleme von Live-in-Arbeitsverhältnissen sind ausufernde Arbeitszeiten sowie unbezahlte Arbeit. In Gesprächen mit Beratungsstellen berichten die betroffenen Frauen immer wieder, dass sie rund um die Uhr arbeiten, keine Pausen und auch keinen freien Tag in der Woche haben. Neben der Pflege und Betreuung müssen sie zusätzliche Haushaltstätigkeiten wie Einkaufen oder Waschen erledigen. Das Ergebnis: Die tatsächliche Arbeitszeit wird weit unterhalb des Mindestlohns vergütet.

Auch Aggression und Gewalt gehören oft zum Betreuungsalltag. Die Betreuerinnen erfahren nicht nur Beleidigungen und verbale Drohungen, sie erleben teilweise auch körperliche und sexualisierte Gewalt. Übergriffe werden in der Regel jedoch tabuisiert - aus Scham, aus Abhängigkeit, aber auch aus Unwissen über die Beschwerdemöglichkeiten und den möglichen Rechtsschutz.

Erschwert wird die Situation der Live-ins durch die fehlende Trennung von Wohn- und Arbeitssphäre, durch Angst vor Behörden und Arbeitgebenden sowie mangelnde Sprachkenntnisse. Das führt dazu, dass viele Frauen in sozialer Isolation leben. Der Kontakt zu Familie und Freundinnen im Herkunftsland oder anderen Live-ins in Deutschland läuft meist nur über die sozialen Medien.

Problematische Verträge und Beschäftigungsmodelle

Äußerst problematisch sind auch die meisten Verträge und Beschäftigungsmodelle. Neben irregulärer und illegaler Beschäftigung gibt es eine Vielzahl rechtswidriger oder zumindest intransparenter Arbeitsverträge. Eine zentrale Rolle spielen dabei Vermittlungsagenturen - im EU-Ausland und in Deutschland. Sie enthalten Live-ins mitunter elementare Informationen über ihre Tätigkeit vor, zum Beispiel über die Art oder die Anmeldung des Arbeitsverhältnisses; manche wissen nicht, dass sie ihre Arbeit als (Schein-) Selbstständige ausführen beziehungsweise dass für sie keine Sozialbeiträge abgeführt werden. Andere haben keine Information darüber, ob sie in Deutschland krankenversichert sind und welche Rechte ihnen als Arbeitnehmende zustehen. Nicht selten werden die Live-ins mit rechtswidrigen Vertragsinhalten unter Druck gesetzt.

Die Bundesregierung hatte sich vorgenommen, die teilweise katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen dieser Frauen und Männer anzugehen. Laut Koalitionsvertrag sollte die 24-Stunden-Betreuung im häuslichen Bereich rechtssicher gestaltet werden. Wie diese „rechtssichere Grundlage“ aussehen könnte, ist aus dem Koalitionsvertrag allerdings nicht ersichtlich. Bisher sind den Worten jedoch keine Taten gefolgt. Und ob dieses Vorhaben in der jetzigen Legislatur noch umgesetzt werden soll, ist derzeit mehr als fraglich.

Deutsches Arbeitsrecht ist eindeutig

Die menschenrechtlichen Probleme dieser Beschäftigungen sind zahlreich und vielschichtig. Doch den Betreuungskräften stehen die gängigen Arbeitnehmerinnenrechte zu, etwa der Anspruch auf Vergütung mindestens in Höhe des gesetzlichen Mindestlohns, auf Ruhepausen- und Ruhezeiten sowie sichere und gesunde Arbeitsstätten. Hinzu kommen Deutschlands menschenrechtliche Verpflichtungen aus dem UN-Sozialpakt, aus dem ILO-Übereinkommen über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte und aus der Revidierten Europäischen Sozialcharta.

Für die Live-in-Betreuung im Speziellen müssen die Beschäftigungsverhältnisse grundsätzlich rechtlich geklärt werden. Ziel muss dabei unter anderem der erleichterte Zugang zu einer regulären abhängigen Beschäftigung sowie ein klares Tätigkeitsprofil sein. Darüber hinaus braucht es verbindliche Qualitätsstandards für Vermittlungsagenturen sowie effektive Beschwerdemöglichkeiten und flächendeckend mehrsprachige Beratungsangebote für Live-ins.

Regierung muss auf vielen Feldern aktiv werden

Hier muss die Regierungskoalition nun dringend tätig werden. Klar ist auch, die Live-In-Betreuung kann nicht die Versorgungslücken eines dringend reformbedürftigen Pflegesystems füllen. Es gilt auch, die stationäre Pflege deutlich aufzubessern und mehr bezahlbare professionelle ambulante Pflegedienstleistungen zu schaffen, um die Angehörigenpflege daheim stärker zu unterstützen.

Die Analyse „Harte Arbeit, wenig Schutz. Osteuropäische Arbeitskräfte in der häuslichen Betreuung in Deutschland“ ist Ergebnis der Kooperation des Instituts mit dem Modellprojekt „MB 4.0 - Gute Arbeit in Deutschland“ von Minor - Projektkontor für Bildung und Forschung. Das Projekt wurde von der Gleichbehandlungsstelle für EU-Arbeitnehmer bei der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration gefördert.

Claudia Engelmann ist stellvertretende Leiterin der Abteilung Menschenrechtspolitik Inland/Europa am Deutschen Institut für Menschenrechte.