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Flüchtlinge

Gastbeitrag

"EU-Politik erreicht neuen humanitären Tiefpunkt"




Maike Krumm
epd-bild/Carolin Kronenburg
Für die Caritas in Münster hat die Flüchtlingspolitik der EU einen neuen humanitären Tiefpunkt erreicht. Migrationsexpertin Maike Krumm beschreibt und bewertet in ihrem Gastbeitrag für epd sozial gravierende Versäumnisse der aktuellen EU-Politik.

Beim diesjährigen Weltflüchtlingstag sind in der Berliner Passionskirche die Namen von mehr als 51.000 Kindern, Frauen und Männern vorgelesen worden, die seit 1993 auf ihrer Flucht nach Europa gestorben sind. Über 32 Stunden hinweg! Die Aktion „Beim Namen nennen“ machte auf das oft stille und namenlose Elend aufmerksam gemacht - und es wurde der Verstorbenen gedacht.

Anstatt sichere Fluchtwege nach Europa zu schaffen und an den EU-Außengrenzen eine schnelle Aufnahme und gerechte Verteilung aller Schutzsuchenden innerhalb der Europäischen Union zu organisieren, hat die Abschottungspolitik der EU einen neuen humanitären Tiefpunkt erreicht. Die EU-Innenministerinnen und -minister haben sich auf eine gemeinsame Position zur Reform des Europäischen Asylsystems verständigt, die die Asylverfahrensverordnung sowie Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung beinhaltet.

Aushöhlung des Rechts auf Schutz

Im Kern geht es darum, dass ein für alle EU-Mitgliedstaaten verbindliches Verfahren zum Umgang mit Anträgen auf internationalen Schutz angewendet werden soll. Dabei sollen künftig Asylverfahren an den EU-Außengrenzen stattfinden, um in sogenannten „Asylzentren“ schnellstmöglich zu prüfen, ob die ein Asylverfahren zulässig ist. Das betrifft alle Schutzsuchenden, die aus Ländern mit einer niedrigen Anerkennungsquote geflohen sind.

Darüber hinaus soll es für Schutzsuchende angewandt werden, die über einen potenziell „sicheren Drittstaat“ nach Europa geflüchtet sind. Diese Verfahren unterscheiden sich von den vollwertigen Asylverfahren gemäß Artikel 18 der EU-Grundrechtecharta. Sie stellen lediglich eine beschleunigte Vorprüfung dar, um festzustellen, ob die betroffene Person überhaupt ein Recht auf ein Asylverfahren hat oder ob sie in einen Staat außerhalb der EU abgeschoben werden soll.

Die zentrale Zielsetzung des internationalen Flüchtlingsschutzes, nämlich die inhaltliche Prüfung und Gewährung von Schutz für Schutzsuchende - und zwar eines jeden Einzelfalls - wird durch diese geplanten Grenzverfahren ausgehöhlt. Insbesondere dadurch, wenn Schutzsuchende keinen adäquaten Zugang zu einer anwaltlichen Vertretung oder verfahrensrechtlicher Beratung haben.

Ausweitung der angeblich sicheren Drittstaaten

Während dieser Grenzverfahren, die bis zu sechs Monate dauern können, erfolgt eine haftähnliche Unterbringung nach dem „Prinzip der fiktiven Nicht-Einreise“. Die Antragstellenden gelten in dieser Zeit als nicht eingereist. Die europäischen Mitgliedsstaaten können selbst entscheiden, das Instrument der Grenzverfahren auf alle Personen, die über einen angeblich sicheren Drittstaat gekommen sind, auszuweiten. Gleichzeitig sollen die Kriterien für die Einstufung eines Landes als „sicher“ gelockert werden. Auch für syrische und afghanische Schutzsuchende könnte das bedeuten, dass sie beispielsweise in die Türkei abgeschoben werden und von dort aus wieder in Krieg und Verfolgung zurückkehren müssen.

Neben der Einführung von Grenzverfahren und der Ausweitung sicherer Drittstaaten sollen mit der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung die Voraussetzungen für eine Verteilung von Schutzsuchenden innerhalb der Europäischen Union geschaffen werden. Die Zuständigkeit für Asylbewerberinnen und -bewerber bleibt aber prinzipiell bei den Staaten, in denen sie zuerst einreisen. Das ist auch bei der aktuellen, zurecht viel kritisierten Dublin-II Verordnung der Fall. Die Einführung der neuen obligatorischen Grenzverfahren wird zu einer noch höheren Belastung und Verantwortung für die Außengrenzstaaten führen.

Außengrenzstaaten werden nicht entlastet

Daneben soll zukünftig ein sogenannter „Solidaritätsmechanismus“ eingeführt werden, für den die Mitgliedstaaten eine bestimmte Zahl an Plätzen für die Verteilung zusichern. Staaten, die keine Schutzsuchenden aufnehmen wollen, können sich finanziell an dem „Solidaritätspaket“ beteiligen oder Personal und weitere Ressourcen zur Unterstützung der Grenzabwehr zur Verfügung zu stellen.

Eine wirksame Entlastung der Außengrenzstaaten kann damit jedoch nicht erreicht werden. Es wird zu einer Zunahme rechtswidriger Pushbacks sowie zu einer Ausweitung von politischen Deals mit menschenrechtsverletzenden Autokratien in Drittstaaten kommen - wie beispielsweise dem EU-Türkei-Deal, dem EU-Deal mit der libyschen Küstenwache sowie Rückführungen in libysche Folterlager und der neuesten EU-Vereinbarung mit Tunesien, das 100 Millionen Euro für sein „Grenzmanagement“ bekommt.

Gefahr der Zunahme illegaler Pushbacks

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte betont, die Rechte von Geflüchteten zu stärken und das Sterben auf dem Mittelmeer zu bekämpfen. Doch weder das eine noch das andere wird durch die Auslagerung von Verantwortung an Staaten erreicht, die sich nicht an menschenrechtliche und demokratische Grundlagen halten.

Vielmehr führt diese Vorgehensweise zur Billigung schwerer Menschenrechtsverletzungen und der Zunahme illegaler Pushbacks. Trotzdem folgen keine Konsequenzen, keine strafrechtliche Verfolgung. Grenzschützer agieren zum Teil ohne jegliche Kontrollinstanz. Dabei handelt es sich nicht um Einzelfälle, sondern um einen systematischen Abbau von rechtsstaatlichen Prinzipien an den EU-Außengrenzen.

Rechte Ideologien werden stärker

Die seit vielen Jahren zunehmenden Abschottungstendenzen der EU widersprechen nicht nur ihrem Gründungsgedanken. Das Missachten von menschenrechtlichen Standards hat bereits Einfluss auf unsere Gesellschaft genommen. Rechte Ideologien erstarken - und Grenzen von menschenrechtlichen Tabubrüchen werden weiter aufgeweicht. Kein Aufschrei, wenn wieder ein Flüchtlingsboot sinkt - es hat sich ein kollektives Gewöhnen an Grausamkeit eingestellt. Die sich in unseren Gesellschaften breitmachenden Abstumpfungstendenzen bei Missachtung von Rechtsstaatlichkeit und das Abschotten hinter Mauern vergiften unser humanitäres Zusammenleben.

Und: Die Grenzsicherung mit Waffengewalt verschiebt unsere Werte und Normen - schutzsuchende Menschen werden zum kriegerischen Feind gemacht. Die Abkehr von menschenrechtlichen Standards hin zu einer Verwertbarkeitsdebatte von Menschen für unsere Volkswirtschaft zeigt sich auch, wenn Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregierung im Ausland um Fachkräfte werben, während sie gleichzeitig Schutzsuchende und Seenotretter an den EU-Außengrenzen kriminalisieren.

Aktuell finden die trilogischen Gespräche - die Verhandlungen von EU-Parlament, Kommission und Rat statt. Die Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament werden voraussichtlich zu einem Votum Anfang 2024 - und damit vor der Europawahl - führen. Bis dahin hat die Bundesregierung ihre selbst gesetzte Aufgabe aus dem Koalitionsvertrag zu erfüllen und „auf dem Weg zu einem gemeinsamen funktionierenden EU-Asylsystem mit einer Koalition der aufnahmebereiten Mitgliedstaaten voranzugehen und aktiv dazu beizutragen, dass andere EU-Staaten mehr Verantwortung übernehmen und EU-Recht einhalten“ (S. 141 des Koalitionsvertrages).

Maike Krumm ist Referentin für Migration und Flüchtlingsarbeit bei der Caritas im Bistum Münster.