München (epd). Mit Beschluss des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom September 2022 besteht in Deutschland die Pflicht für Arbeitgeber, die Arbeitszeiten ihrer Angestellten systematisch zu erfassen. Das Urteil soll ein Schritt in Richtung eines verbesserten Arbeitsschutzes sein. Unbezahlte Überstunden sollen damit der Vergangenheit angehören. Die Münchner Rechtsanwältin Alexandra Callies gibt Aufschluss darüber, welche Veränderungen die Vorschrift nach sich zieht. Die Fragen stellte Stefanie Unbehauen.
epd sozial: Frau Callies, seit diesem Jahr gilt die Pflicht zur exakten Arbeitszeiterfassung. Droht Angestellten, die ihre Arbeitszeit nicht aufzeichnen, nun ein Bußgeld?
Alexandra Callies: Nein, Angestellte müssen kein gesetzliches Bußgeld befürchten, wenn sie ihre Arbeitszeit aktuell nicht aufzeichnen. Die Verpflichtung zur Durchführung einer korrekten Arbeitszeiterfassung betrifft den Arbeitgeber. Solange dieser nichts Entsprechendes anordnet, ist der Arbeitnehmer nicht in der Pflicht. Selbst bei einer Anordnung droht dem Arbeitnehmer kein Bußgeld.
epd: Wenn dem Arbeitnehmer bei Verweigerung kein Bußgeld droht - mit welchen Konsequenzen hat er dann zu rechnen?
Callies: Sobald der Arbeitgeber seine Angestellten dazu auffordert, die Arbeitszeit aufzuzeichnen, sind diese dazu verpflichtet. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und auch nach dem aktuell vorliegenden Referentenentwurf des Bundesarbeitsministeriums vom 18. April zum Arbeitszeitgesetz können Arbeitgeber die Pflicht zur Aufzeichnung der Arbeitszeit auf ihre Angestellten übertragen. Nach außen verantwortlich bleibt aber trotzdem der Arbeitgeber.
Die Arbeitszeiterfassung wird mit einer solchen Weisung für die Angestellten Teil ihrer Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis. Wenn ein Arbeitnehmer diese Pflicht nach einer entsprechenden Weisung verletzt, indem er seine Arbeitszeit nicht erfasst, dann kann der Arbeitgeber ihn abmahnen und im Wiederholungsfalle sogar kündigen - wie bei anderen Pflichtverletzungen auch.
epd: Muss die Aufzeichnung zwingend digital erfolgen und wenn ja, muss der Arbeitgeber seinen Angestellten die technischen Möglichkeiten hierfür bereitstellen?
Callies: Das Bundesarbeitsgericht hat noch nicht entschieden, ob die Arbeitszeiterfassung digital erfolgen muss. Der Europäische Gerichtshof hat jedoch bereits geurteilt, dass die Methoden zur Arbeitszeiterfassung zuverlässig, objektiv und zugänglich sein müssen. Diese Vorgabe ist auch in Deutschland anzuwenden. Ob beispielsweise eine jederzeit veränderliche Excel-Tabelle oder eine Zeiterfassung mittels Papier und Stift für diese Kriterien ausreichen, erscheint fraglich und ist derzeit unter Juristen noch umstritten.
Voraussichtlich müssen digitale Systeme - etwa über eine App oder eine Chipkarte - verwendet werden. Die Bereitstellung der technischen Möglichkeiten obliegt auf jeden Fall dem Arbeitgeber. Hier will der Gesetzgeber nun Klarheit schaffen: Nach dem aktuell vorliegenden Referentenentwurf zum Arbeitszeitgesetz ist beabsichtigt, grundsätzlich eine Pflicht zur elektronischen Erfassung einzuführen, wobei darunter nach dem Entwurf auch die Nutzung einer Excel-Tabelle fallen würde. Für Kleinunternehmen mit weniger als zehn Arbeitnehmern soll eine nichtelektronische Zeiterfassung weiterhin zulässig bleiben.
epd: Wie ist das Gesetz in der Sozialbranche umzusetzen, beispielsweise in der Familienhilfe oder der ambulanten Pflege, wo Arbeit oft außerhalb des Büros stattfindet?
Callies: Grundsätzlich gilt das Gleiche wie für alle anderen Arbeitnehmer auch. Eine Arbeitszeiterfassung mittels Stift und Papier, wie sie bislang häufig praktiziert wurde, wäre auch hier dann nur noch für Kleinbetriebe möglich. Wenn man davon ausgeht, dass in Zukunft eine digitale Erfassung erforderlich wird, lässt sich auch das mittels moderner technischer Systeme lösen. So kann zum Beispiel eine Handy-App verwendet werden, mittels derer der Arbeitnehmer flexibel von überall aus Beginn und Ende seiner Arbeitszeiterfassung steuern kann. Das Stellen eines entsprechenden Diensthandys ist Aufgabe des Arbeitgebers.
epd: Was ist bei der richtigen Aufzeichnung zu erwarten, damit Überstunden im Nachhinein abgebaut werden können?
Callies: Wer die Aufzeichnung der Arbeitszeit als Beweismittel nutzen möchte, um Überstunden abzubauen, muss neben den exakten Arbeitszeiten zusätzlich nachweisen, dass der Arbeitgeber die Überstunden angewiesen oder zumindest bewusst toleriert hat. Diese zweite Voraussetzung ist in der Praxis häufig die schwierigere. Wer also aktuell die Arbeitszeit noch mit Papier und Stift erfasst, sollte die Aufzeichnungen vom Vorgesetzten gegenzeichnen lassen. Bei einer digitalen Erfassung kann man sich dagegen meist darauf berufen, dass der Chef die Arbeitszeiten im System sehen konnte. Somit hat er die geleisteten Überstunden zumindest stillschweigend toleriert.