München (epd). Es war gegen 18 Uhr an jenem 3. Juni 1998, als der Notfallseelsorger Andreas Müller-Cyran in Eschede ankam. Etwa sieben Stunden zuvor war dort der ICE „Wilhelm Conrad Röntgen“ entgleist, 101 Menschen waren gestorben, mehr als 70 schwer verletzt worden.
„Wir haben dort die Einsatzleitung beraten, wie man Einsatzkräfte stabilisieren kann, wenn sie tagelang mit der Bergung von Leichen und Leichenteilen zu tun haben“, berichtet Müller-Cyran, der Diakon und Leiter der Abteilung Krisenpastoral im Erzbischöflichen Ordinariat München ist. „Das Personal dort war in hohem Maß belastet und traumatisiert.“
Eschede war die erste Katastrophe in Deutschland, bei der eine umfassende psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) für Betroffene, aber vor allem auch für Einsatzkräfte zum Einsatz kam. Damals wie heute leisteten und leisten diese Arbeit überwiegend Nicht-Psychologen, meist Pfarrerinnen und Pfarrer sowie Ehrenamtliche.
Das habe Vor- und Nachteile, sagt Jutta Helmerichs, bis 2021 Leiterin des psychosozialen Krisenmanagements im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Sie leitete beim Zugunglück in Eschede die Einsatznachsorge.
„Es ist schon eine spezielle Fachlichkeit erforderlich, um zu erkennen, ob jemand Traumafolgeschäden hat“, erklärt Helmerichs. Die hätten aber nicht alle, die sich in der PSNV engagierten. Was deren Können angehe, gebe es „eine große Heterogenität“. Das Problem sei nicht, dass schlecht qualifizierte Ehrenamtliche Betroffene retraumatisieren könnten, stellt sie klar, das komme nur äußerst selten vor. „Meist bewirken sie einfach gar nichts“, sagt die Soziologin. Das sei insofern problematisch, als dass sich Betroffene später keine Hilfe holten, wenn sie sie bräuchten, nachdem sie beim ersten Mal keine positiven Erfahrungen gemacht hätten.
Meist beginne das Problem schon bei der Ausbildung, sagt Helmerichs. Einerseits wolle man ja Freiwillige gewinnen. „Das ist ja auch erst mal gut und richtig“, betont sie, aber das führe mitunter dazu, dass man unter Bewerberinnen und Bewerbern für die Ausbildung in der PSNV nicht gut genug auswähle. „Wer ungeeignet ist, wird nicht in jedem Fall nicht abgewiesen“, beschreibt Helmerichs.
Der Diakon Müller-Cyran benennt ein weiteres Problem: „Die Qualität der Ausbildung ist unterschiedlich.“ Mitunter werde nach Algorithmen geschult. Die Ehrenamtlichen betreuten dann nach Schema F, weil sie es so gelernt hätten, sagt er, das werde Betroffenen und ihrer Situation aber nicht gerecht. „Es ist auch nicht definiert, wer überhaupt ausbilden darf“, sagt er. Außerdem fehle es an einer geregelten Refinanzierung für die PSNV, sie dürfe daher nicht viel kosten. „Das führt dann mitunter dazu, dass man an der Ausbildung spart und an der teuren Supervision“, beschreibt er.
Andere Länder, etwa Japan oder Australien, setzen bei Katastrophenlagen auf „mental health disaster nurses“, Pflegekräfte mit einer psychologischen oder psychiatrischen Zusatzausbildung. Anders als Ehrenamtliche arbeiten sie meist auf einem einheitlichen Standard.
Die Forschung sieht sie bei großen Schadensereignissen auch deutlich vielseitiger als Helferinnen und Helfer von außen. Disaster nurses unterstützen nicht nur auf der psychosozialen Ebene, sondern leisten oder koordinieren auch pflegerische Maßnahmen, lösen organisatorische Probleme und haben auch das klinische Bild von Patienten im Blick. Letzteres ist besonders wichtig, da manche Verletzungssymptome sich erst im Laufe der Zeit herausbilden können, etwa bei einem Schädel-Hirn-Trauma. Disaster nurses können solche Symptome erkennen und von psychogenen Symptomen unterscheiden.
Die Vorteile des deutschen, auf Ehrenamt basierenden Systems im Vergleich zu Systemen mit disaster nurses sieht die Soziologin Helmerichs darin, Ehrenamtliche nicht nur bei großen Katastrophen tätig seien, sondern auch im Einsatzalltag. Notfallseelsorge- und Kriseninterventionsteams überbringen beispielsweise Todesnachrichten oder betreuen Menschen nach plötzlichen Todesfällen von engen Angehörigen. Ihre Mitglieder seien also in der Praxis trainiert, erklärt Helmerichs. Externe Kräfte wie disaster nurses hingegen müssten sich in Katastrophenfällen erst in die Strukturen von Rettungsdienst, Polizei, Feuerwehr und Katastrophenschutz einarbeiten.
In der PSNV für Einsatzkräfte hat das deutsche Syste, fachfremde Helfer mit Zusatzqualifikationen einzusetzen, ebenfalls Vorteile. Diese Helfer sind hier vielfach keine Ehrenamtlichen, sondern selbst Einsatzkräfte. In Feuerwehren, Rettungsdiensten und der Polizei ist es mitunter noch schambesetzt, sich Hilfe zu holen, wenn man an einem schweren Einsatz zu kauen hat. Es bietet einen niedrigschwelligen Einstieg, wenn man sich an einen Kollegen oder eine Kollegin wenden kann. Ein kompletter Ersatz für eine professionelle psychologische Betreuung ist das freilich nicht.
Genau diese Kombination, diese Tandems zwischen Kollegen und Fachkräften sei „das Erfolgsrezept dieses Systems“, erklärt die Soziologin Helmerichs: „Weil da Leute dabei sind, die Stallgeruch haben“. Beim Zugunglück in Eschede habe man dieses System in Deutschland erstmals angewendet.
Seit Eschede gebe es leider kaum Fortschritte in der PSNV, bedauert der Münchener Diakon Müller-Cyran. Es brauche mehr Forschung und klare Gesetze. Letztlich, sagt er, sei das Problem, dass man sich mit diesem Thema nicht gerne beschäftige, immerhin gehe es ja um plötzlich hereinbrechende Unglücke, Tod und existenzielle Not. „Das Thema braucht aber gesellschaftliche Akzeptanz.“
Helmerichs würde das Ehrenamt in der PSNV ihren Worten zufolge nicht abschaffen. „Es braucht aber mehr Hauptamtliche“, sagt sie. Es sei sinnvoll, Zertifikate einzuführen und eine Qualitätskontrolle bei den Ehrenamtlichen: „Die Freiwilligkeit sollte sich langsam in eine verbindliche Struktur verwandeln.“ Auch Müller-Cyran würde das Ehrenamt keinesfalls abschaffen wollen. „Ehrenamt braucht aber einen guten Rahmen“, erklärt er.