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Alternativen zur 112: Experten raten zu "vorbeugendem Rettungsdienst"




Rettungswagen mit Besatzung
epd-bild/Peter Jülich
Rettungsdienste beklagen eine hohe Zahl sogenannter Bagatelleinsätze. Strukturelle Mängel sind die Ursache dafür. Es gibt Ideen, wie die Einsatzzahlen sinken können.

Berlin (epd). Menschen rufen angeblich wegen eingerissener Fingernägel die 112 an, die Rettungsdienste ächzen unter einer hohen Zahl von Einsätzen, die keine Notfälle sind. Ob das so stimmt, ist umstritten, aber klar ist: Die Zahl der Rettungsdiensteinsätze hat sich in den vergangenen 20 Jahren in etwa verdoppelt. Die Antwort darauf war in diesen Jahren immer: mehr Rettungswagen, mehr Personal.

Dieser Weg ist nun zu Ende. Es gibt kein Personal mehr, das man zusätzlich einstellen könnte, die Arbeitsbelastung des vorhandenen Personals ist enorm. Der Rettungsdienst stehe vor dem Zusammenbruch, warnte im Dezember das Bündnis „Pro Rettungsdienst“.

Integrierte Leitstellen

Worin genau eigentlich die Probleme liegen, die zu mehr Einsätzen führen, lässt sich gesichert noch nicht sagen. „Die Forschung dazu fängt gerade erst an“, erklärt Thomas Hofmann von der Deutschen Gesellschaft für Rettungswissenschaften in Aachen. Einige Problemfelder könne man dennoch identifizieren.

So produziere eine mangelhafte Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten viele unnötige Einsätze. In der Kritik steht etwa der Ärztliche Bereitschaftsdienst (ÄBD) der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV). Der ÄBD ist die Vertretung von Hausärzten nachts, am Wochenende und an Feiertagen. Patienten rufen häufig die 112 an, wenn sie lange auf einen Besuch des ÄBD warten müssen oder sie die ÄBD-Zentralen gar nicht erst telefonisch erreichen.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat bereits im Februar ein Modell zur Reform der Notfallversorgung vorgestellt. Demnach sollen künftig integrierte Leitstellen alle Hilfeersuchen aufnehmen und sie an die jeweils geeigneten Leistungserbringer weiterleiten, also entweder Rettungsdienst oder ÄBD. Diese Leitstellen sollen entweder räumlich zusammengefasst sein oder virtuell.

Hofmann fehlt ein wichtiger Aspekt an diesem Modell. In manchen Landes-KVen entscheiden nämlich die ÄBD-Ärzte selbst, ob und zu welchen Patienten sie fahren. Selbst wenn ein Disponent in einer Leitstelle eine Notwendigkeit für einen ÄBD-Besuch erkennen würde, könnte der Arzt sich weigern und den Patienten an den Rettungsdienst abgeben. Und das geschehe auch mitunter, erklärt Hofmann: Das Problem am ÄBD sei, dass die niedergelassenen Ärzte ihn selbst finanzieren. Jeder Patient, den der ÄBD an den Rettungsdienst abgeben kann, belaste das Budget nicht. „Ein klassischer Fehlanreiz“, sagt er. Sollten die Integrierten Leitstellen kommen, müssten sie zwingend über ein Weisungsrecht für den ÄBD verfügen. „Das ist der Hauptknackpunkt“, unterstreicht Hofmann.

Fehlendes Wissen bei Hausärzten

Janosch Dahmen hingegen hält ein Weisungsrecht aus rechtlichen Gründen für unrealistisch. Denn sie stehe der ärztlichen Selbstverwaltung entgegen. Dahmen ist gesundheitspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion der Grünen im Bundestag - und er ist vom Fach. Ehe er 2020 in den Bundestag einzog, war er Ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes in Berlin. Er sieht das Problem mit dem ÄBD an anderer Stelle: „Der gesetzliche Auftrag, was genau vom ÄBD im Rahmen des Sicherstellungsauftrags für die ambulante Notfallversorgung angeboten werden muss, ist zu unpräzise formuliert.“ Hier müsse der Gesetzgeber nachschärfen, damit klar festgelegt sei, wer welche Fälle, wie, wo, wann und durch wen versorgt.

Rettungsdienste beklagen auch immer wieder, dass manche Hausärzte nicht wissen, welche Einsatzmittel für welche Fälle vorgesehen sind. Hausärzte stellen dann aus Unkenntnis einen Transportschein für einen Rettungswagen aus, wo ein Krankenwagen angemessen wäre. Oder sie verordnen einen Krankenwagen, obwohl ein Liegendtaxi ausreichen würde.

Hier schlägt Hofmann vor, dass Notfallsanitäter künftig Transportscheine ausstellen oder ändern dürfen. Wenn die Besatzung eines Rettungs- oder Krankenwagens also zu einem Patienten kommt, der nur ins Krankenhaus gefahren werden möchte, aber keine medizinische Versorgung während der Fahrt benötigt, soll sie den Transportschein auf „Taxi“ ändern können. Ihr Fahrzeug bliebe so für Notfälle frei.

Strukturelle Probleme betreffen aber nicht nur das ambulant-ärztliche System, sondern auch den Rettungsdienst selbst. Denn der basiert auf einem Konzept, das jahrzehntealt ist. Die Gesellschaft hat sich aber weiterentwickelt.

Ein Notruf, weil Alternativen fehlen

Menschen leben heute oft nicht mehr in Großfamilien. Ihnen fehlt im Notfall Unterstützung, auch bei geringen medizinischen Problemen. Konkret: Wenn sich ein Single, der weitgehend sozial isoliert in einer Großstadt lebt, sich den Zeh bricht, kommt er ohne Rettungswagen gar nicht mehr ins Krankenhaus. Menschen mit psychosozialen Problemen wählen die 112, weil sie keine anderen Ansprechpartner mehr haben. Patienten mit chronischen Atembeschwerden bleibt nur der Notruf, wenn sich ihre Erkrankung verschlimmert, etwa bei einer Erkältung, weil ihre Versorgung in diesen Fällen nicht sichergestellt ist. Im Rettungsdienst-Jargon heißen diese Fälle „Versorgungsproblem“.

Menschen wählen also den Notruf, weil ihnen Alternativen fehlen. Sowohl Dahmen als auch Hofmann nennen eine ganze Reihe von Ideen, wie diese Versorgungsprobleme aufzufangen wären, ehe sie beim Rettungsdienst landen: ein Tele-Hausarzt zum Beispiel. Oder ein Notfallpflegedienst, der zum Beispiel verstopfte Urinkatheter wechseln könnte. Ein sozialpsychiatrischer Dienst, der sich um Menschen kümmert, die nicht mehr für sich selbst sorgen können. Ein Gemeindenotfallsanitäter, der sich Patienten zu Hause anschaut und dann die entsprechenden Weichen für deren weitere Versorgung stellt. Oder ein Medikamenten-Botendienst, der verhindert, dass Menschen nur wegen Medikamentenmangels in eine Klinik eingewiesen werden.

Ein Gefühl von Hilflosigkeit

Viele dieser Vorschläge stehen in dem Papier „Vorbeugender Rettungsdienst - präventive Ansätze und Förderung von Gesundheitskompetenz an den Schnittstellen zur Notfallrettung“. Mitte März wurde es veröffentlicht, Dahmen ist einer der Autoren.

Den Vorwurf, dass Menschen heute kaum noch Gesundheitskompetenz hätten und daher wegen Bagatellen den Rettungsdienst riefen, lassen sowohl Hofmann als auch Dahmen nicht gelten. Der Grünen-Politiker bekräftigt, dass verfügbare Zahlen diese These als Mythos entlarvten: „Diese gefühlte Wahrheit lässt sich mit Zahlen nicht erhärten, vielmehr sind die Einsatzzahlen aller Dringlichkeitsstufen gleichermaßen angestiegen.“

Überhaupt dürfe man einem Menschen nicht absprechen, dass er einen Rettungswagen haben wolle, wenn er glaube, dass er einen benötige, sagt Dahmen: „Ein akutes medizinisches Problem, ein Gefühl von Hilflosigkeit und Not, dass ist zunächst immer ein subjektives Erleben der betroffenen Menschen selbst.“

Nils Sandrisser


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