sozial-Recht

Landessozialgericht

Fast taube Ärztin ist nach Erstausbildung nicht mehr "hilflos"




Das LSG Stuttgart hat den Entzug des Merkzeichens "H" nach beendetem Studium bestätigt.
epd-bild/Heike Lyding
Als "hilflos" eingestufte gehörlose Personen verlieren nach dem Ende ihrer Erstausbildung regelmäßig das ihnen zugeteilte Merkzeichen "H" (hilflos). Liegt keine andere Beeinträchtigung vor, können sie ohne fremde Hilfe ihr Leben gestalten, urteilte das Landessozialgericht Stuttgart und erklärte den Entzug des Merkzeichens "H" für korrekt.

Stuttgart (epd). Entschieden wurde der Fall einer in ihrer Kindheit nahezu ertaubten Frau, die nach dem Abschluss ihrer Erstausbildung nicht mehr als „hilflos“ gilt. Sie hat erfolgreich ein Medizinstudium absolviert und folglich ist bei ihr der Entzug des Merkzeichens „H“ (hilflos) gerechtfertigt, entschied das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg in einem am 22. April veröffentlichten Urteil. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass bei der Frau nicht mehr von einer die Hilflosigkeit begründenden Kommunikationsstörung auszugehen sei.

Anderes könne aber gelten, wenn der Gehörlose etwa wegen Minderbegabung „nicht in der Lage ist, das Mindestmaß an Verständigungsmöglichkeiten mit der höheren Umwelt zu erlernen, das bei einem erfolgreichen Besuch einer Gehörlosenschule vermittelt wird“, betonten die Stuttgarter Richter.

Ärztin verlor Merkzeichen nach beendetem Studium

Konkret ging es um eine ausgebildete Ärztin, die seit ihrem zweiten Lebensjahr wegen einer Hirnhautentzündung beidseitig nahezu ertaubt ist. Ihr wurden ein Grad der Behinderung von 100 sowie mehrere Merkzeichen, darunter „Gl“ (Gehörlos), „G“ (erhebliche Gehbehinderung) und „H“ zugesprochen. Schwerbehinderte Menschen können damit derzeit bei der Einkommensteuer einen Pauschbetrag von 7.400 Euro jährlich geltend machen. Zudem werden sie von der Kraftfahrzeugsteuer befreit und können auch Freifahrt-Regelungen im öffentlichen Personennahverkehr nutzen.

Im November 2015 entzog ihr das Landratsamt die Merkzeichen „G“, „B“ (Begleitperson) und „H“. Bei angeborener oder im Kindesalter erworbener Taubheit seien die Merkzeichen „G“ und „B“ in der Regel nur bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres begründet. Auch die Voraussetzungen für das Merkzeichen „H“ lägen nicht mehr vor, so das Amt.

Amt sah Zeit der Hilflosigkeit als beendet an

Der Widerspruch der Ärztin hinsichtlich des Merkzeichens „H“ hatte zunächst Erfolg. Doch ab 11. Dezember 2020 wurde ihr im Alter von 36 Jahren endgültig der Status „hilflos“ entzogen.

Das Merkzeichen „H“ werde bei tauben oder fast tauben Menschen ab Beginn der Frühförderung erteilt, so die Behörde. Denn in dieser Zeit bestehe Hilflosigkeit wegen eines erhöhten Kommunikationsbedarfs - in der Regel bis zur Beendigung der ersten Ausbildung. Die erste Ausbildung, hier ihr Medizinstudium, habe sie aber abgeschlossen und arbeite als Assistenzärztin.

Die Ärztin zog vor Gericht und meinte, dass ihre Ausbildung erst mit ihrem Fachärztinnenabschluss beendet sei. Als Assistenzärztin dürfe sie nicht alleine arbeiten. Für ihren „Facharztabschluss“ habe sie jedoch weiterhin Unterstützungsbedarf. Nach der UN-Behindertenrechtskonvention müssten die Vertragsstaaten, darunter auch Deutschland, behinderte Menschen bei der von ihnen gewählten Ausbildung unterstützen, so ihre Begründung. Doch sowohl das Sozialgericht Mannheim als auch das LSG wiesen ihre Klage auf Weitergewährung des Merkzeichens „H“ ab.

LSG: Behinderungsausgleich nicht mehr erforderlich

Das LSG verwies darauf, dass die Ärztin ihre Erstausbildung nach ihrem 28 Semester dauernden Medizinstudium abgeschlossen habe. Ein erforderlicher Behinderungsausgleich in Form eines Merkzeichens „H“ sei nicht mehr ersichtlich.

Als „hilflos“ würden Personen nach dem Einkommensteuergesetz gelten, wenn sie für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung ihrer persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe bedürfen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) könne Hilflosigkeit vorliegen, wenn eine behinderte Person mindestens zwei Stunden täglich fremde Hilfe benötigt.

Keine Minderbegabung oder geistige Behinderung

Die Klägerin führe jedoch ein selbstbestimmtes Leben und könne ihre zwei Kinder selbst versorgen. Sie benötige auch keine „wiederkehrende Hilfe“ wie beim An- und Auskleiden, der Nahrungsaufnahme oder der Körperpflege. Bei vor Spracherwerb ertaubten Menschen liege anfangs ein Kommunikationsdefizit vor, welches die gesamte Lebensführung prägt. Mit Abschluss der ersten Berufsausbildung sei dies aber in der Regel nicht mehr der Fall. Danach könne von einer Hilflosigkeit aber ausgegangen werden, wenn Gehörlose etwa eine Minderbegabung oder geistige Behinderung aufweisen und deshalb kein „Mindestmaß an Verständigungsmöglichkeiten“ entwickeln konnten.

Das sei bei der ausgebildeten Ärztin indes nicht der Fall. Mit dem Verweis auf die UN-Behindertenrechtskonvention ergebe sich laut dem Gericht nichts anderes. Denn diese begründe keine „Rechtsgrundlage für Leistungsansprüche“, urteilte nun das LSG.

Az.: L 6 SB 3065/22

Frank Leth