Hamburg (epd). Er ist der Chef von rund 50 hauptamtlichen Mitarbeitenden und zahlreichen engagierten Ehrenamtlern. Torsten Rebbe leitet SOS-Kinderdorf Hamburg. Die Einrichtung ist konstant auf Wachstumskurs. Doch die Suche nach Fachkräften wird immer schwieriger. „Das hat Folgen. Auch für uns. Das ist eine große Herausforderung“, sagt Rebbe. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Herr Rebbe, bevor wir zum Problem des Fachkräftemangels in der Jugendhilfe kommen, erläutern Sie doch bitte, wie SOS-Kinderdorf hier in Hamburg aufgestellt ist und wie Sie arbeiten.
Torsten Rebbe: Ich verwende zur Beschreibung unseres Ansatzes gerne das Bild der Hilfekette. Wir bieten Unterstützung und Beratung an allen Gliedern der Kette: von niedrigschwelligen Angeboten, wo wir versuchen, die Kinder und Eltern so früh wie möglich zu erreichen, bis hin zur Unterbringung junger Menschen in stationären Angeboten, also Wohngruppen.
epd: Wie sehen die Angebote aus?
Rebbe: Es geht los im Offenen Bereich, wo wir mit einem Familiencafé und anderen Angeboten präventiv arbeiten und versuchen, die Kinder über die Eltern zu erreichen. Mit so wenig Aufwand wie möglich wollen wir bestimmte Zustände positiv verändern. Dann gibt es Beratungsangebote und ambulante Hilfen, wenn schon ein bisschen etwas passiert ist oder das Jugendamt auf uns zukommt und Unterstützung für eine Familie erbittet. Wenn wir es nicht schaffen, die Situation in einer Familie durch diese Hilfen zu stabilisieren und zu verbessern, dann haben wir die stationären Hilfen in drei Kinderdorffamilien für je vier Kinder. Diese familienanalogen Angebote sind ein sehr spezielles Angebot in der Jugendhilfelandschaft, das sich tatsächlich anfühlt wie Familie.
epd: Das klingt, als hätten Sie das Ende der Entwicklung erreicht.
Rebbe: Nein. Definitiv nicht, man muss immer in Bewegung bleiben, Dinge nachsteuern, Angebote verbessern und ausbauen. Das tun wir auch, weil wir vor anderthalb Jahren einen Neubau errichten konnten, der viel bessere Möglichkeiten bietet. Vor dem Neubau haben wir 500 bis 1.000 Personen im Monat erreicht, in dem neuen Familienzentrum erreichen wir heute knapp 3.000 Menschen im Monat. Unser Ziel ist es, dies auf 5.000 Kontakte zu steigern.
epd sozial: Kaum eine Branche in Deutschland klagt nicht über fehlende Fachkräfte. Aus Kitas und in der Pflege kennt man die Probleme schon länger. Wie ist die Lage derzeit bei Ihnen in der Jugendhilfe?
Rebbe: Uns als SOS-Kinderdorf in Hamburg geht es noch vergleichsweise gut. Wir spüren zwar auch den Personalmangel, wir brauchen deutlich länger als früher, um Fachstellen wieder zu besetzen. Wir kriegen auch längst nicht mehr so viele Bewerbungen auf den Tisch. Aber bislang haben wir noch immer das benötigte Personal gefunden. Und zwar nicht einfach irgendwen, sondern die qualifizierten Personen, nach denen wir gesucht haben.
epd: Anderen Trägern gelingt das schon nicht mehr ...
Rebbe: Das stimmt. Wir sind im Austausch miteinander, und ich weiß, dass schon Wohngruppen um uns herum geschlossen wurden. Das ist tragisch, wenn man sich vor Augen führt, was das für die betreuten Kinder und Eltern, aber auch für das verbliebene Personal bedeutet.
epd: Warum sind Sie bei SOS-Kinderdorf nicht so unter Druck?
Rebbe: Vielleicht ist die Lage bei uns etwas entspannter, weil wir einen guten Ruf haben. Und wir bemühen uns auch aktiv, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass die Mitarbeitenden möglichst zufrieden bei uns arbeiten. Und sicher ist es in einer Großstadt wie Hamburg auch leichter, Fachkräfte zu finden als auf dem flachen Land. Aber klar ist auch: Das Problem des Fachkräftemangels wird größer, sehr viel größer. Und das hat Folgen. Auch für uns. Das ist eine große Herausforderung.
epd: Was heißt das ganz konkret für ihre bestehende Arbeit?
Rebbe: Ich habe ja gesagt, dass wir unsere Angebote noch deutlich ausweiten wollen, doch wie soll das gehen ohne Personal? Und wir brauchen immer Personen, die bereit sind, im Schichtdienst zu arbeiten. Das ist auch nicht jedermanns Sache. Schon heute ist es in manchen Bereichen so, dass wir mindestens drei, vier Monate warten müssen, um Stellen wieder zu besetzen. Das belastet wiederum die Mitarbeitenden, die schon da sind. Im offenen Bereich ist das vielleicht weniger problematisch, da kann dann eben ein Angebot nicht stattfinden. Das ist nicht so tragisch. Aber wenn ich verantwortlich dafür bin, dass zwölf Kinder bei uns leben und auch kontinuierlich rund um die Uhr betreut werden, dann wird es heikel. Die Kinder kann ich nicht nach Hause schicken. Wenn ich kein Personal finde, was mache ich dann mit den Mädchen und Jungen?
epd: Klingt nach schlaflosen Nächten ...
Rebbe: Ja. Es kommt einfach zu wenig Personal nach. Das hat auch massive Folgen für unsere Gesellschaft. Denn Kinder werden ja nicht mal eben ohne Grund aus einer Familie rausgenommen. Da besteht mitunter Gefahr für Leib und Leben. Die Kinder müssen gesund aufwachsen können. Wir reden hier von gewalttätigen Eltern, von psychisch kranken Eltern. Da muss die Jugendhilfe schnell reagieren, doch das kann sie dann vielleicht nicht mehr im nötigen Umfang. Doch was bedeutet es, wenn ich die Kinder nicht mehr irgendwo anders hingeben kann?
epd: Was wären die Folgen?
Rebbe: Die wären hochdramatisch. Wenn das eskaliert, dann muss man auswählen, welchen Kindern und Jugendlichen man schnell hilft und welchen nicht, wer untergebracht wird und wer nicht. Wen lassen wir im Elend sitzen und wen nicht. Wir haben das Problem jetzt schon, dass wir in den Kinderschutzhäusern viel zu wenig Plätze für jüngere Kinder haben. Und es deshalb auch oft dauert, bis eine ordentliche Unterbringung auf Dauer organisiert werden kann. Die Not ist also schon da.
epd: Auch die Jugendämter klagen über fehlendes Personal.
Rebbe: Die Lage in den Jugendämtern, mit denen wir ja eng kooperieren, ist längst ebenfalls problematisch. Dort fehlen auch Fachkräfte, werden Stellen nicht besetzt. Jugendämter haben jedoch das Wächteramt. Wenn das nicht mehr funktioniert, wer guckt da genau hin in die Familien und wer organisiert Hilfe? Da wird der Fachkräftemangel zu einer Gefahr für den Kinderschutz.
epd: Wo sollen die Erzieherinnen und Sozialpädagogen herkommen? Die Ausbildungskapazitäten sind ja begrenzt?
Rebbe: Stimmt. Aber vielleicht hat der Fachkräftemangel da auch was Gutes. Ich bin ein optimistischer Mensch und sehe in den Krisen auch Chancen. Denn es tut sich bereits was zum Positiven. Ich beobachte gerade, dass sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Zum Beispiel gibt es quasi keine Jahresverträge mehr, die werden nicht mehr akzeptiert. Dann sagen die Leute, dann gehe ich eben woanders hin. Die Wertschätzung für den Job steigt, das ist meine Beobachtung. Und auch die Bezahlung wird besser, was die Arbeit natürlich auch attraktiver macht. Die Bezahlung muss so sein, dass man ein vernünftiges Leben führen kann. Da ist sicher auch noch Luft nach oben. Doch es geht nicht nur ums Geld. Die Arbeitsbedingungen müssen stimmen, die Teams funktionieren, Dienstpläne verlässlich eingehalten werden. Es muss Fort- und Weiterbildung geben. Das alles muss im Paket stimmen, dann ist viel gewonnen.
epd: Rächen sich jetzt die Versäumnisse der Vergangenheit?
Rebbe: Ja. In der Vergangenheit ist da viel versäumt worden. Vor zehn, fünfzehn Jahren hatte man einen kommenden Personalmangel nicht auf dem Schirm. Man hielt die Jugendhilfe auch nicht für systemrelevant, wie sie erst seit der Corona-Krise so gesehen wird. Zugangsbeschränkungen zur Ausbildung waren früher überall üblich. Das kann man sich heute nicht mehr leisten, wo wir überall händeringend Leute suchen. Wir haben auch selbst reagiert und ein eigenes Ausbildungsprogramm gestartet. Wir haben zwar immer Mitarbeitende gefunden, aber die sind oft nicht lange bei uns geblieben. Die waren zwar ausgebildet, aber eben noch nicht so gefestigt in ihren Erfahrungen, dass sie den Belastungen auf Dauer standhalten konnten. Da setzen wir an mit gezielten Nachschulungen. So werden die Kolleginnen und Kollegen noch mal an verschiedene Themen herangeführt, und es bewährt sich inzwischen seit rund fünf Jahren, ihnen noch weiteres Handwerkszeug zu geben.
epd: Reden wir noch über die Gefährdung der Kinderrechte durch den Personalmangel. Gesundes Aufwachsen, Bildung und Kinderschutz - ist das künftig noch einzulösen oder werden die Gebote nur noch auf dem Papier stehen?
Rebbe: Ich glaube, in vielen Bereichen in Deutschland sind da schon heute rote Linien überschritten. Nehmen wir nur den Lehrermangel in den Schulen. Da kommt das Recht auf Bildung rasch unter die Räder. Oder erinnern wir uns an Corona, wo durch geschlossene Schulen und Home-Schooling Zehntausende Mädchen und Jungen quasi von der Bildung abgehängt wurden. Nehmen wir die Jugendhilfe, wo auch eine düstere Zukunft drohen kann. Wenn Kinder nicht mehr aus belasteten Familien in die Schutzräume etwa von Wohngruppen gebracht werden können, ist das eine Katastrophe. Da sind deren Rechte nach der Kinderrechte-Konvention massiv verletzt. Und eine große Zahl von Kindern wird nicht mehr adäquat versorgt. Wir steuern auf eine schwierige Zukunft zu - so ehrlich muss man sein.