sozial-Branche

Krieg in der Ukraine

Interview

Professorin Schutter: Jugendhilfe besser ausstatten




Sabina Schutter
epd-bild/Maximilian Geuter (SOS-Kinderdorf).
Zehntausende Kinder und Jugendliche aus der Ukraine sind bereits in Deutschland, und es dürften noch viele dazukommen. Doch Sabina Schutter, Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf, sieht die Jugendhilfe gut gerüstet. Die Träger und Behörden hätten aus dem Jahr 2015 viel gelernt. Und doch blieben viele Fragen offen, sagt sie im Interview mit epd sozial.

Die Pädagogik-Professorin betont, der Kinderschutz habe Vorrang bei allen Entscheidungen zur Aufnahme von Flüchtlingskindern, ganz besonders bei denen, die ohne Familie oder Verwandte nach Deutschland kämen. Wie viele Flüchtlinge noch kämen, sei derzeit völlig offen. Die Platzkapazitäten würden womöglich nicht reichen: „Auch, weil wir damit rechnen, dass noch ganze Kinderheime und Waisenhäuser evakuiert werden müssen. Schätzungen zufolge wachsen fast 100.00 Kinder und Jugendliche in ukrainischen Heimen auf.“ Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Zehntausende Kinder mit ihren Müttern aus der Ukraine sind bereits nach Deutschland gekommen und wurden zumindest provisorisch untergebracht. Zuletzt ging die Zahl der Neuankömmlinge zurück. Wird das die Lage für die Jugendhilfe entspannen?

Sabina Schutter: Das ist schwer zu sagen. Die Situation verändert sich täglich und ist sehr dynamisch. Denn es ist nicht klar, wie lange der Krieg noch dauert. Was uns von SOS-Kolleginnen und -Kollegen vor Ort oder in den Nachbarländern berichtet wird, ist dass viele Familien hoffen, dass der Kampf bald vorüber ist. Daher flüchten sie noch nicht aus ihrer Heimat oder bleiben zumindest noch im nahen Polen.

epd: Müssen sich Jugendhilfeträger und Jugendämter dennoch darauf einstellen, dass noch weit mehr Kinder- und Jugendliche zu erfassen, zu verteilen und aufzunehmen sind?

Schutter: Davon gehe ich aus. Auch, weil wir damit rechnen, dass noch ganze Kinderheime und Waisenhäuser evakuiert werden müssen. Schätzungen zufolge wachsen fast 100.00 Kinder und Jugendliche in ukrainischen Heimen auf und befinden sich in der Obhut des ukrainischen Staates.

epd: Wie ist deren Situation?

Schutter: Sie alle sind vom Krieg unmittelbar bedroht. Viele von ihnen halten sich aktuell noch immer in Kriegsgebieten auf, andere wurden bereits evakuiert oder befinden sich auf der Flucht. Was diese jungen Menschen angeht, stellen sich aktuell viele drängende Fragen: Wie werden sie registriert, wo werden sie untergebracht und, das darf man nicht vergessen, wie kann eine dem Kindeswohl gerechte Rückführung später aussehen, wenn sie irgendwann zurück in ihre Heimat möchten? Ich bin sehr froh, dass wir als SOS-Kinderdorf im Auftrag des Bundesfamilienministeriums eine Meldestelle einrichten konnten, an die sich alle Menschen wenden können, die Anfragen zur Unterbringung von Kindergruppen aus der Ukraine erhalten, oder bei denen Gruppen geflüchteter Kinder und Jugendlicher direkt und ungeplant ankommen.

epd: Reicht die Zahl der derzeitigen Plätze in den Einrichtungen der Jugendhilfe aus?

Schutter: Auch das ist schwer zu beurteilen. Noch ist ja unklar, wie viele weitere Kinder und Jugendliche kommen werden. Aber ich vermute schon, dass wir weitere stationäre Unterbringungen brauchen, denn es ist ja nicht so, dass es hier ein Überangebot an Plätzen gibt. Das Problem beim Aufbau neuer Einrichtungen ist nicht, passende Häuser zu finden. Es fehlen Fachkräfte, die es für die professionelle Betreuung der Kinder und Jugendlichen dringend braucht. Also rate ich eher dazu, eine gewisse Flexibilität zu zeigen.

epd: Das heißt?

Schutter: Natürlich meine ich damit nicht, dass man geltenden Standards missachten sollte, aber es ist möglich, bei der notfallmäßigen Unterbringung die Gruppen etwas aufzustocken oder mal vorübergehend von den vorgeschriebenen Fachkräfteschlüsseln beim Personal abzuweichen. Was wir allerdings in unseren Einrichtungen auch sehen: Das pädagogische Fachpersonal ist extrem belastet, erst die Belastungen durch Corona, nun die nächste Krise, in der sie gefragt sind. Die Situation ist schwierig und zeigt, dass hier frühzeitig versäumt wurde, pädagogische Einrichtungen personell adäquat auszustatten. Hier muss dringend nachgesteuert werden. Spätestens diese „doppelte Krise“ zeigt doch : Wir brauchen eine besser ausgestattete Jugendhilfe.

epd: Wie gehen Sie der Aufnahme von Flüchtlingskindern bei SOS-Kinderdorf vor?

Schutter: Zunächst mal melden alle unsere Häuser die Zahl zur Verfügung stehender freier Plätze. Bundesweit sind es zwischen 80 und 100 Kinder und Jugendliche, die wir bei uns aufnehmen können - diese Plätze sind auch zum Teil schon vergeben. Natürlich versuchen wir, auch in Kooperation mit anderen Trägern, kurzfristig weitere Plätze zu schaffen. Wir selber können aber auch gar nicht so viele neue stationäre Angebote schaffen, da uns einfach auch die pädagogischen Mitarbeitenden fehlen, um die geflüchteten Kinder dann unserem qualitativen Ansatz gerecht zu betreuen.

epd: Viele Kinder und Jugendliche müssen sofort in Obhut genommen werden. Ist das ein organisatorisches und auch personelles Problem in den Jugendämtern?

Schutter: Nein, das sehe ich nicht. Auch wenn wir keine belastbaren Zahlen über die Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge haben, die zu uns kommen. Denn nur in diesem Fällen müssen die Jugendämter ja gemäß § 42 Sozialgesetzbuch VIII überhaupt tätig werden.

epd: Aber nicht nur wegen Corona tun sich die Ämter oft schwer, ihre Aufträge zu erfüllen...

Schutter: Ja, sie funktionieren seit langem an ihren Kapazitätsgrenzen und sind alles andere als krisenfest. Hier muss dringend nachgesteuert werden. Was die ukrainischen Flüchtlingskinder angeht, sind die meisten Kinder nicht alleine unterwegs, sondern kommen mit ihren Müttern oder anderen nahen Verwandten hier in Deutschland an, sie haben somit eine enge Bezugsperson. Familiäre Bezugspersonen sind sehr wichtig, um sich in einer Krisensituation gegenseitig Halt zu geben. Deshalb sollten Geschwister, Familien und zusammenreisende Gruppen so gut es geht zusammenbleiben können. Es hat niemand etwas davon, ein Kind, das mit dem Nachbarn oder einem Freund der Eltern ankommt, von der Begleitperson zu trennen und in Obhut zu nehmen. Damit, so ist mein Eindruck, versuchen alle Beteiligten möglichst pragmatisch umzugehen.

epd: Der Kinderschutz wird also dabei stets beachtet?

Schutter: Das ist ein gutes Stichwort. Die Gefahr ist natürlich groß, dass im Ankunftschaos an den Grenzen oder auf den Bahnhöfen Fremde Kinder an die Hand nehmen und sich als Freunde oder Verwandte ausgeben. Da muss man sehr vorsichtig sein. Wir haben schon früh gefordert, dass unabhängig davon, ob die Kinder mit oder ohne Begleitung nach Deutschland kommen, die Jugendämter von Anfang an informiert und eingebunden sein müssen. Wir schlagen auch vor, dass Kinderschutzbeauftragte an allen Grenzübergängen sowie bei der Aufnahme, Erstversorgung und Weiterreise mit einbezogen werden. Denn nur so kann gewährleistet werden, dass Kinder nicht dem Risiko des Menschenhandels ausgesetzt werden und angemessen unterstützt werden können.

epd: Was genau geschieht, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher aus einem Zug in Deutschland steigt?

Schutter: Dann greift ein genormtes Verfahren, dessen Ablauf formal betrachtet eigentlich immer gleich sein sollte. Gehen wir also mal davon aus, dass auch Fachleute der Jugendhilfeträger da sind und sich der Neuankömmlinge sofort annehmen können. Dann entscheiden die Platzkapazitäten vor Ort, ob die Betroffenen in eine entsprechende Unterkunft kommen, also entweder in eine Clearingstelle oder eben direkt in eine Einrichtung der Jugendhilfe als kindgerechte Unterkunft. Alleinstehende Kinder kommen nicht in Sammelunterkünften unter. Möglichweise werden die Mädchen und Jungen dann später noch mal in eine andere Einrichtung gebracht, etwa aus Platzgründen oder weil es aus familiären, pädagogischen oder therapeutischen Gründen nötig ist. Wichtig ist, dass das immer kindgerecht erfolgt und die Mädchen und Jungen bei den Entscheidungen auch beteiligt werden.

epd: Welche Rolle spielen hier private Aufnahmeangebote?

Schutter: Kinder und Jugendliche, die allein ankommen, werden nie an engagierte Bürgerinnen und Bürger gegeben, das verbietet der Jugendschutz ganz grundsätzlich. Trotz der Wertschätzung für dieses tolle Engagement kann man kein minderjähriges Kind irgendeinem Fremden anvertrauen. Wichtig ist auch, dass keine Kinder verloren gehen, wie das 2015 noch der Fall war. Hier haben wir dazugelernt. Wie gesagt, die frühzeitige Einbindung des Jugendamtes von Anfang an halten wir in diesen Fällen für essentiell.

epd: Was muss dann passieren, wenn das Kind in Obhut genommen ist?

Schutter: Dann fängt die Arbeit erst richtig an. Es gibt jetzt im Vergleich zu 2015, wo die meisten Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan kamen, für ältere Kinder zwei Möglichkeiten der schulischen Angebote. Zum einen den deutschen Regelunterricht oder auch rein ukrainische Vorschulklassen. Viele der Kinder haben aber auch die Möglichkeit, online am Unterricht ihrer Heimatschule in der Ukraine teilzunehmen. Und dazu besteht offenbar auch oft der Wunsch.

epd: Das hinzubekommen, ist sicher eine Herausforderung ...

Schutter: Ja, denn die Lage ist schwierig, man muss hier passgenaue, individuelle Angebote finden. Da gibt es keine One-fits-all-Lösung. Wir müssen neben deutschen Angeboten, die Möglichkeit schaffen, weiter ukrainischen Unterricht zu bekommen, auch, weil man ja damit rechnen muss, dass die Familien wieder in ihre Heimat zurückkehren und die Kinder dann dort erhebliche Probleme hätten, ihre Abschlüsse zu schaffen. Es wäre falsch, die Anbindung an das Herkunftsland komplett zu kappen, das haben wir aus der Vergangenheit gelernt.

epd: Kleine Kinder sollten schnell einen Kita-Platz bekommen, auch, damit die Mütter arbeiten können. Doch das dürfte oft schwierig sein ...

Schutter: Das stimmt vermutlich. Aber auch hier muss man versuchen, die Platzkapazitäten vorübergehend zu erhöhen. Dann hat man eben mal befristet nicht den passenden Fachkräfteschlüssel, aber ich denke, das ließe sich bewerkstelligen in dieser besonderen Situation. Da würden die deutschen Eltern sicher mitgehen und auch die Kita-Träger.

epd: Und wie sieht die psychosoziale Unterstützung aus?

Schutter: Das ist Sache der weiteren Hilfesysteme, die auch psychosoziale Unterstützung und Traumabewältigung bieten. Die sozialen Leistungen stehen zur Verfügung, wenn die Inobhutnahme erfolgt ist. Das sind die nächsten Schritte, die gegangen werden müssen. Doch es kann eine ganze Weile dauern, bis sich das Päckchen, das ein Kind aus dem Krieg mitbringt, entfaltet. Kinder können eine ganz Zeitlang gut funktionierend wirken, doch dann kommt doch noch eine Traumatisierung zum Vorschein.

epd: Was wäre organisatorisch besser zu machen, falls noch viele Familien kommen?

Schutter: Ich bin dafür, das Ganze zentraler zu steuern. Die Bundesregierung will das ja auch tun. Davon kann man ganz grundsätzlich bei der Aufnahme und Verteilung der Menschen profitieren. Das sauber zu regeln ist ja kein Schaden, auch wenn dann weniger Flüchtlinge kommen. Was die Verteilung der Heim- und Waisenkinder angeht, haben wir mit der SOS-Meldestelle als zentrale Koordinierungsstelle nun eine wichtige Einheit geschaffen, die das erleichtern wird und zeitgleich den Kinderschutz für diese Gruppen durch die Vermittlung von kindgerechter gemeinsamer Unterkunft sicherstellt.