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Sozialgeschichte

Arbeiterwohnungen aus Fürsorge



Wohnungsnot ist im 19. Jahrhundert weit verbreitet. In dieser Zeit versuchen Fabrikanten, durch eine Art sozialen Wohnungsbaus, die Arbeiter an die Unternehmen zu binden. In Frankreich sind drei dieser Architekturdenkmäler für Besucher zugänglich.

Mulhouse (epd). In einigen der mächtigen roten Backsteinbauten wird noch produziert, in einem der Gebäude ist eine Kletterschule untergebracht, bei anderen sind die Türen vernagelt und die Fenster blind - die Fabrikgebäude stehen leer. Wir sind auf dem Gelände von DMC: Die Abkürzung steht für „Dollfus-Mieg et Compagnie“, ein elsässisches Textilunternehmen, das 1746 von Jean-Henri Dollfus in Mulhouse gegründet wurde.

Errichtung der ersten Arbeitersiedlung

Das weltberühmte Unternehmen stellt auch heute noch Garne und Fäden her, im 19. Jahrhundert prosperierte die Textilindustrie und machte die Fabrikanten reich, die Stadt galt als das französische Manchester. Aus dieser Zeit stammt auch die Idee zur Gründung einer Arbeiterstadt, um die Wohnverhältnisse zu verbessern und die Fabrikarbeiter an das Unternehmen zu binden. 1826 hatten 22 junge Industrieunternehmer die „Société Industrielle de Mulhouse” (“Mulhousener Industriegesellschaft”) gegründet, die heute noch aktiv ist. Ziel war es, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Dazu wurde ein Krankenhaus gebaut, ein Kindergarten eröffnet - und es begann 1854 die Errichtung der ersten Arbeitersiedlung in Frankreich, der Cité Ouvrière.

Das Viertel mit seinem charakteristischen „carré mulhousien“, ein Gebilde von vier miteinander verbundenen Häusern mit individuellem Garten und Eingang, liegt fußläufig zum Firmengelände von DMC. Durch die Arbeiterstadt werden Führungen angeboten, zum Beispiel von Jean-Marc Fritsch auf Deutsch. Er erzählt von der Geschichte der Siedlung und dass die typische Arbeiterwohnung 44 Quadratmeter maß. Die Siedlung zählt an die 1.300 derartiger Häuser, heute freilich von den Besitzern oft umgebaut und modernisiert. Jedes verfügt über einen kleinen Garten, oft mit einem Lindenbaum. Die Arbeiter sollten sich zu Hause erholen und beschäftigen und nicht in die Kneipe gehen und politisieren.

Philanthropisch eingestellte Fabrikanten

Die Cité Ouvrière ist eine Modellsiedlung nach paternalistischen Muster, wobei philanthropisch eingestellte Fabrikanten sich um die Lebens- und Wohnbedingungen ihrer Arbeiterfamilien kümmerten. Die Siedlungen waren das Kontrastprogramm zu den elenden Wohnverhältnissen, wie sie zum Beispiel 1845 Friedrich Engels in seiner Sozialreportage über die Lage der englischen Arbeiter beschrieb. Ganz uneigennützig war das Engagement der Fabrikanten freilich nicht: Die Arbeiter sollten zum Erhalt ihrer Arbeitskraft angehalten und an die Fabrik gebunden werden.

Rudolf Stumberger


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