Guise (epd). „Mein Vater hat in der Fabrik gearbeitet, und wir sind 1958 in die Familistère gezogen“, berichtet Christian Noisette. Der 66-jährige pensionierte Lehrer ist in der Wohnung Nr. 187 aufgewachsen, 60 Quadratmeter, zwei Zimmer. „Das war schon etwas Besonderes“, erzählt er weiter, „alle kannten sich hier, jeder kannte jeden.“ Noisette steht in dem mit Glas überdachten Innenhof der sogenannten Familistère, einer Großwohnanlage in der Kleinstadt Guise in der Picardie im Norden Frankreichs.
Hier hatte der Ofenfabrikant Jean-Baptiste André Godin Mitte des 19. Jahrhunderts für die Arbeiter seiner Fabrik mehrere „Sozialpaläste“ bauen lassen. Godin, so erzählt Christian Noisette die Geschichte, kam aus einfachen Verhältnissen und wurde durch die Produktion von Öfen aus Gusseisen wohlhabend. Die Fabrik gibt es immer noch, einen kurzen Fußweg von der Familistère entfernt. Godin war Anhänger der damaligen utopischen Sozialisten und wollte deren Ideen in die Praxis umsetzen.
Vorbild war die „Phalanstère“ des Frühsozialisten Charles Fourier, eine Großwohnanlage für etwa 1.600 Menschen, die dort zusammen leben sollten. Bei Godin wurde aus der „Phalanstère“ eine „Familistère“, ein Hauptgebäude mit zwei großen Flügeln, jeweils mit Glas überdachten, fast 1.000 Quadratmeter großen Innenhöfen versehen. Hier lebten an die 500 Familien auf drei Stockwerken, die über Galerien zugänglich waren. „Wir wohnten hier drüben auf der zweiten Etage“, sagt Christian Noisette.
Godin, erzählte er weiter, wollte das Leben seiner Fabrikarbeiter verbessern. Dazu gehörte die Einrichtung eines Kindergartens und einer Schule für die Kinder der Arbeiterfamilien. Die Bewohner konnten in eigenen Läden günstig einkaufen, es gab ein Theater als geistigen Mittelpunkt der Wohnanlage (statt einer Kirche), und auch ein Schwimmbad mit absenkbarem Boden stand zur Verfügung.
1880 ging Godin noch einen Schritt weiter und wandelte sowohl die Fabrik als auch die Wohngebäude in eine Genossenschaft um, die den Arbeitern gehörten. Patriarchalisch war das ganze Unternehmen freilich deshalb, weil der Ofenfabrikant vor allem seine Ideen umsetzte und die Arbeiter nicht wirklich etwas mitzubestimmen hatten.
„Interessant ist“, sagt Christian Noisette, „dass das Experiment immerhin bis 1968 gedauert hat.“ Ausgerechnet in jener Zeit, als Arbeiter und Studenten in Frankreich auf die Straße gingen, war es dann mit der Genossenschaft zu Ende, Fabrik und Wohnungen wurden privatisiert. „Damals gingen viele Leute fort, der Familienzusammenhang ging verloren“, erinnert sich Noisette. Manche aber blieben weiterhin in der Familistère wohnen. 1990 wurde die Schule wieder eröffnet, und dort unterrichtete Christian Noisette als Lehrer von 2003 bis 2015 Kinder zwischen zwei und elf Jahren.
Heute gehört die Familistère der öffentlichen Hand und wird seit mehr als einem Jahrzehnt zu einem „Museum der Utopie“ umgebaut. Am weitesten fortgeschritten ist der Umbau im Zentralpavillon, in dem zahlreiche Ausstellungen die Geschichte der Familistère erzählen. Ein Seitenflügel soll zu einem Hotel werden, gesucht werden dafür noch Investoren. Im zweiten Seitenflügel sollen nach der Restaurierung Sozialwohnungen entstehen.
„Im Hauptgebäude sind noch ein paar Wohnungen von Senioren bewohnt“, weiß Lehrer Noisette zu erzählen. Seine Familie ist 1972 aus der Familistère ausgezogen.