Berlin (epd). Edeltraud Geister ringt um Fassung und wischt ihre Tränen fort. Die ehemalige Laborassistentin berichtete am 23. August in Berlin über die Folgen von Corona, ihre Überlastung durch die Pflege ihres Mannes, über ihre Krankheit und den folgenden Klinikaufenthalt. Während die 67-Jährige stationär behandelt wurde, kam ihr verwirrter Mann in eine Reha-Einrichtung. Dort verschlechterte sich sein Zustand weiter. „Er braucht rund um die Uhr Betreuung, das kann ich nicht mehr leisten“, sagt sie. Schwer sei es ihr gefallen, diese Entscheidung zu treffen. „Doch am Ende hatte ich keine Wahl.“ Seit Mai lebt Peter Geister daher nun in einem auf Demenz spezialisierten Heim.
Die Geschichte des Paares ist einer Studie zufolge einer von ungezählten tragischen Fällen, bei denen die Pandemie für Pflegehaushalte zum Alptraum wurde. Demnach fühlten sich im Corona-Lockdown 78 Prozent der daheim versorgten Pflegebedürftigen schwer belastet. Bei ihren Angehörigen waren es 84 Prozent, wie aus der Untersuchung der Hochschule Osnabrück hervorgeht, die vom Auftraggeber VdK jetzt vorgestellt wurde. Fast ein Drittel der Pflegebedürftigen verließ im Lockdown die Wohnung nicht mehr, wie aus den Antworten der rund 16.000 Befragten hervorgeht.
Die meisten Betroffenen fühlten sich vergessen, heißt es in der Studie. Sie litten darunter, dass viele Angebote der Tagespflege oder Demenzcafés entfielen. Auch Werkstätten für Menschen mit Behinderung mussten schließen. 37 Prozent der Pflegehaushalte nahmen nach eigenen Angaben keine Unterstützungsangebote mehr in Anspruch. Das erkläre, warum 70 Prozent der Befragten sich als psychisch schwer belastet bezeichneten, sagte Studienleiter Andreas Büscher von der Hochschule Osnabrück.
VdK-Präsidentin Verena Bentele zog eine bittere Bilanz: „Für die Pflegeheime legte die große Koalition millionenschwere Rettungsschirme auf, für die Pflegekräfte gab es immerhin Applaus und Boni. Nur für die pflegenden Angehörigen zu Hause gab es mal wieder nichts.“ Die Pflegenden und Gepflegten daheim seien die Vergessenen der Pandemie, ihre Belange würden sträflich vernachlässigt. Dabei werden laut Bentele 80 Prozent der mehr als vier Millionen Pflegebedürftigen zu Hause versorgt.
Der VdK kündigt als Konsequenz juristische Schritte an. „Deswegen werden wir jetzt die unter anderem einkassierte Erhöhung des Pflegegeldes einklagen - notfalls bis zum Bundesverfassungsgericht“, sagte Bentele. Die Erhöhung aller Pflegeleistungen im Umfang von 1,8 Milliarden Euro sei im Koalitionsvertrag angekündigt gewesen, wurde aber auch bei der Pflegereform im Juli nicht umgesetzt. Das Geld wird laut Bentele zweckentfremdet und umgeleitet, um die Eigenanteile in der stationären Pflege zu bezuschussen.
Oberstes Ziel der künftigen Bundesregierung müsse es sein, die häusliche Pflege zu ermöglichen und auch entsprechend zu fördern, sagte die VdK-Präsidentin. Es sei falsch, die Heimpflege auszubauen und finanziell besser auszustatten: „Das ist ein Irrweg. Wir brauchen mehr Unterstützung für den ambulanten Bereich.“
Deshalb warb sie erneut für ein Entlastungsbudget, von dem pflegende Angehörige unterstützende Angebote auswählen und bezahlen könnten: „Das wirre Nebeneinander von Kurzzeit- und Verhinderungspflege muss ein Ende haben.“ Außerdem bräuchten pflegende Angehörige eine Lohnersatzleistung sowie einen gesetzlichen Anspruch, von ihrer Arbeit freigestellt zu werden und anschließend wieder in ihren Job zurückkehren zu können.
Eugen Brysch, Vorstand der Stiftung Patientenschutz, sieht die Initiative des VdK zwar positiv, mahnt aber an, ein individueller Rechtsanspruch auf Dynamisierung des Pflegegeldes könne nicht in langjährigen Gerichtsprozessen, sondern nur im Bundestag erstritten werden. „Immerhin werden über 64 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause allein von ihren Angehörigen versorgt. Für diese Menschen hält die aktuelle Pflegereform nichts bereit“, sagt der Patientenschützer.
Auch er warb für ein Pflegezeitgeld als Lohnersatzleistung ähnlich dem Elterngeld. Zudem seien Tagespflege, Verhinderungspflege und Kurzzeitpflege Mangelware. „Hier gilt es, einen Rechtsanspruch wie für Kita-Plätze einzurichten.“
Handlungsbedarf für einer künftige Bundesregierung besteht aber auch weiter in der stationären Pflege, wie eine am 23. August in Hamburg veröffentlichte Studie verdeutlicht. Nach einer DAK-Untersuchung bleiben trotz der jüngsten Pflegereform weiterhin unkalkulierbare Kosten für Pflegebedürftige. Zudem steige der Anteil der Sozialhilfeempfänger in der Pflegeversicherung 2021 Modellrechnungen zufolge auf das Rekordniveau von 35 Prozent, teilte die Krankenkasse unter Verweis auf eine Erhebung des Bremer Pflegeökonomen Heinz Rothgang mit.
An der Zunahme der Sozialhilfeempfänger werde sich auch durch die jüngste Pflegereform mittelfristig nichts ändern. „Auch in Zukunft wird daher ein erheblicher Teil der Pflegebedürftigen in Pflegeheimen auf Sozialhilfe angewiesen sein. Nach einem Rückgang 2022 ist bereits 2023 mit einem erneuten Anstieg zu rechnen“, so die DAK.