sozial-Politik

Armut

Kindergrundsicherung: Hoffnung auf radikalen Systemwechsel




Alleinerziehende gehören zu den Gruppen mit dem höchsten Armutsrisiko in Deutschland.
epd-bild/Maike Glöckner
Seit 2009 kämpfen die Sozialverbände für die Grundsicherung. Ihr Ziel: die Kinderarmut überwinden. Ohne Erfolg. Jetzt hoffen sie erneut auf Einsicht in der künftigen Bundesregierung. Mehrere Wahlprogramme der Parteien seien "anschlussfähig", heißt es vorsichtig optimistisch.

Frankfurt am Main (epd). Das Ambiente ist festlich. Strahlende Gesichter. 15 Frauen und Männer haben sich im April 2019 um einen Tisch mit einer gigantischen, rechteckigen Jubiläumstorte versammelt. Darauf der Schriftzug aus buntem Zuckerguss: „Grundsicherung für Kinder. Jetzt!“ Gefeiert wird der zehnte Jahrestag der Gründung des Bündnisses Kindergrundsicherung. Ein fast makabrer Anlass: Denn trotz ungezählter Appelle, Aktionstage und vorgelegten Studien gibt es die Kindergrundsicherung nicht. Doch inzwischen finden sich erste Pläne dazu in den Programmen mehrerer Parteien zur Bundestagswahl.

Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, redet zwei weitere Jahre später nicht um den heißen Brei herum: „Leider sind wir immer noch nicht am Ziel. Und das ist nicht nur für mich sehr enttäuschend“, sagte Hilgers, der das Bündnis 2009 mitgegründet hat, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Kanzlerin Angela Merkel (CDU) habe das Problem 2017 zwar benannt, es aber nicht gelöst: „Es wurden lediglich einige kleine Verbesserungen beim Kinderzuschlag beschlossen.“ Doch das seien Tippelschritte. Damit lasse sich das Problem nicht lösen, betonte Hilgers.

Paritätischer: Einkommensarmut steigt

Gestützt wird diese Kritik durch eine Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, die die Entwicklung der Kinderarmut in Deutschland über einen Zehn-Jahres-Zeitraum untersucht. Während weniger Kinder und Jugendliche Hartz IV-Leistungen bekommen, ist die Einkommensarmut gestiegen, lautet ein zentraler Befund. "Jüngere Reformen bei Leistungen wie Kinderzuschlag und Unterhaltsvorschuss holen zwar verstärkt Familien mit Kindern aus dem SGB-II-Bezug, aber sind nicht armutsfest”, erläutert der Autor der Studie, Andreas Aust.

Bei der Analyse der Einkommensarmut zeige sich klar: Sowohl die Anzahl als auch die Quote der Kinder und Jugendlichen in Einkommensarmut nimmt deutlich zu. „Lag die Anzahl 2010 noch deutlich unter 2,5 Millionen, so stieg sie bis 2019 auf fast 2,8 Millionen - ein Zuwachs von mehr als 250.000. Die Armutsquote stieg in dem betrachteten Zeitraum um mehr als zwei Prozentpunkte von 18,2 Prozent auf 20,5 Prozent“, heißt es in der Untersuchung.

Der Blick in die Programme der Parteien für die Bundestagswahl am 27. September nährt bei Heinz Hilgers ein Fünkchen Hoffnung, dass sich angesichts dieser alarmierenden Zahlen künftig etwas tut im Kampf gegen die Kinderarmut. Er entdecke „sowohl bei den Grünen als auch bei der SPD und den Linken anschlussfähige Vorhaben“, mit denen die Kinderarmut eingedämmt werden soll. Würden diese über eine Koalition verhandeln, dann könnte da ein vernünftiges Konzept bei rauskommen: „Da wäre zumindest eine gewisse Nähe zu unserem Vorhaben erkennbar.“

Maximal 695 Euro je Kind im Monat

Das Bündnis wirbt für eine Grundsicherung für alle Kinder in Höhe von 330 bis 695 Euro monatlich, je nach der Höhe des Einkommens der Eltern. Damit werde der grundlegende Bedarf, den Kinder für ihre Entwicklung und für Teilhabe benötigen und den das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, gedeckt.

Auch die Arbeiterwohlfahrt wirbt für radikale Reformen. Denn heute stünden die existenzsichernde Leistungen wie Kindergeld, Kinder-Regelsatz, Kinderzuschlag und Kinderfreibetrag sowie die Pauschalen des Bildungs- und Teilhabepaketes nebeneinander. „So laufen viele Leistungsansprüche ins Leere“, sagt Vorstandsvorsitzender Jens M. Schubert: Zwar sehe man, „dass die Kindergrundsicherung in den Wahlprogrammen angekommen ist. Die Ideen reichen aber unterschiedlich weit und nicht alle können überzeugen.“ Deshalb sagt er: „Die Kindergrundsicherung gehört verbindlich in den nächsten Koalitionsvertrag.“

Das sieht auch der Deutsche Städtetag so. Es müsse endlich gelingen, Kinderarmut zu überwinden, sagt Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy. Etwa jedes fünfte Kind lebe in Familien mit Armutsrisiko und sei von sozialen Transferleistungen abhängig: „Für gleiche Chancen von allen Kindern und Jugendlichen reicht es eben nicht, das bloße Existenzminimum zu sichern.“

Städtetag: Leistung aus einer Hand einführen

Konkret schlägt der Städtetag eine Kindergrundsicherung „aus einer Hand” als Bundesleistung vor. Sie soll Kindergeld, Kinderzuschlag sowie ALG-II- und Sozialhilfe-Leistungen zusammenfassen. “So könnten aufwändige Doppelstrukturen aufgelöst und die Verwaltungen entlastet werden", sagt Dedy.

Dass ein solcher Systemwechsel aber kommt, ist alles andere als ausgemacht. Auch, weil keine der wahlkämpfenden Parteien eine so weitgehende Grundsicherung, wie sie das Bündnis fordert, in ihre Programme geschrieben hat. Dazu kommt: Koalitionsbildung, nach heutigem Stand mit drei Parteien, geht nur über Kompromisse. Und so könnte die Grundsicherung in den Mühlen zäher Verhandlungen zerrieben werden.

SPD, Linke und Grüne wollen im Falle einer Regierungsbildung Sicherungssysteme einführen, denen man irgendwie das Etikett Grundsicherung aufkleben kann. Die Grünen werben für eine „einfache und gerechte“ Kinder- und Familienförderung. Konkret sollen Kindergeld, Kinderzuschlag, das Sozialgeld für Kinder und die Bedarfe für Bildung und Teilhabe in einer neuen, eigenständigen Leistung zusammengefasst werden: Jedes Kind bekäme demnach einen festen Garantiebetrag. Zudem soll das Kindergeld auf einheitlich 290 Euro im Monat steigen.

SPD will existenzsicherndes Kindergeld

Die SPD hat ein „existenzsicherndes, automatisch ausgezahltes Kindergeld“, das nach Einkommen der Eltern gestaffelt ist, in ihr Programm geschrieben, dessen „Basisbetrag“ bei 250 Euro liegen soll. Der Höchstbetrag könne aber mindestens doppelt so hoch sein. Das ist quasi der Sockel, auf den weitere Hilfen aufgesetzt werden, etwa bundesweit beitragsfreie Kitas, Ganztagsbetreuung für Schulkinder oder freie Fahrt in Bussen und Bahnen: „Das neue Kindergeld ersetzt den Kinderfreibetrag und bündelt bisherige Leistungen“, so die Sozialdemokraten.

Auch die Linkspartei hält eine „armutsfeste Kindergrundsicherung“ für nötig - einkommensabhängig bis maximal 630 Euro je Kind und Monat. Erster Schritt: Die Erhöhung des Kindergeldes für alle Kinder auf 328 Euro monatlich - unabhängig vom Einkommen der Eltern. Dazu kommen freie Fahrt im ÖPNV und der - möglichst gebührenfreie - Ausbau von Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen, Musikschulen und Bibliotheken. Tatsächliche Unterkunftskosten für Kinder sowie einmaliger und besonderer Bedarf von Familien sollen ebenfalls staatlich finanziert werden. „Die Kindergrundsicherung ist eine Leistung ausschließlich für das Kind. Sie wird weder beim Bezug von Sozialleistungen noch innerhalb des Steuerrechts als Einkommen der Eltern oder anderer Haushaltsangehöriger angerechnet“, heißt es im Wahlprogramm.

FDP für „Kinderchancengeld“

Die FDP plädiert für ein „Kinderchancengeld“, für das Kindergeld, der Kinderzuschlag und das Bildungs- und Teilhabepaket zusammengefasst werden sollen. Die CDU/CSU hält nichts von einer Grundsicherung, die nicht gegen die Ursachen von Kinderarmut wirke. „Der beste Schutz gegen Kinderarmut ist ohnehin ein regelmäßiges und gutes Arbeitseinkommen der Eltern“, so die Union. Daher setzten sich CDU und CSU für gute Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarkt und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein.

Im Wahlprogramm der AfD findet sich der Begriff „Kinderarmut“ nicht. Sie wirbt für eine Anhebung des Kinderfreibetrages und die „volle steuerliche Absetzbarkeit von kinderbezogenen Ausgaben und eine Absenkung der Mehrwertsteuer für Artikel des Kinderbedarfs auf den reduzierten Satz“. Und weiter: „Das Kindergeld soll beibehalten, Missbrauchsmöglichkeiten müssen aber unterbunden werden. So ist zum Beispiel für im Ausland lebende Kinder nur der dort übliche Betrag zu zahlen.“

Marion von zur Gathen, Leiterin der Abteilung Soziale Arbeit beim Paritätischen Bundesverband, bleibt skeptisch. Nicht die Wahlprogramme seien entscheidend, sagte sie dem epd. „Wichtiger ist das, was letztendlich im Koalitionsvertrag steht und dann auch umgesetzt wird.“ Auch die jetzt endende Legislaturperiode habe keinen Durchbruch gebracht, sagte die Expertin. „Der Bundesregierung fehlte es am politischen Willen, Kinderarmut konsequent zu beseitigen.“

Und so hofft auch von zur Gathen auf den sozialpolitischen Systemwechsel, denn dadurch verändere sich die Sicht auf Familien. „Sie brauchen kein Misstrauen, sondern Respekt und Wertschätzung sowie das Vertrauen zum Wohle ihrer Kinder zu handeln.“

Dirk Baas


Mehr zum Thema

Verbandspräsident: Systemfehler bei Familienleistungen beseitigen

Wenn die Leistungen des Staates für Familien nicht komplett anders berechnet und ausgezahlt werden, lässt sich nach Ansicht des Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, Kinderarmut nicht überwinden. Seit über zwölf Jahren ringt er gemeinsam mit seinen Mitstreitern im Bündnis Kindergrundsicherung um eine grundlegende Reform der Familienleistungen. Noch immer ohne Erfolg, wie er im Interview mit epd sozial bekennt.

» Hier weiterlesen

Expertin: Grundsicherung führt zu neuem Blick auf Familien

Frankfurt a.M. (epd). Der Bundesregierung fehlt es nach Ansicht des Paritätischen Gesamtverbandes am politischen Willen, Kinderarmut konsequent zu beseitigen. Deshalb kämen nachhaltige Lösungen wie die Kindergrundsicherung nicht auf dem Weg, sagte Marion von zur Gathen, Leiterin der Abteilung Soziale Arbeit, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Eine solche Reform „verlangt eine komplette Neuausrichtung in der Unterstützung und Förderung von Kindern und deren Familien“. Gefordert werden Beträge je nach Einkommen der Eltern von bis zu 695 Euro pro Kind im Monat.

» Hier weiterlesen