sozial-Politik

Armut

Interview

Verbandspräsident: Systemfehler bei Familienleistungen beseitigen




Heinz Hilgers
epd-bild/DKSB
Wenn die Leistungen des Staates für Familien nicht komplett anders berechnet und ausgezahlt werden, lässt sich nach Ansicht des Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, Kinderarmut nicht überwinden. Seit über zwölf Jahren ringt er gemeinsam mit seinen Mitstreitern im Bündnis Kindergrundsicherung um eine grundlegende Reform der Familienleistungen. Noch immer ohne Erfolg, wie er im Interview mit epd sozial bekennt.

Frankfurt a.M. (epd). Weil Armut vererbt werde, kämen viele Kinder aus ihrem Milieu nicht heraus, so Hilgers. Deutschland müsse endlich umsteuern, denn dass es rund drei Millionen Kinder in Armut gebe, sei beschämend. Das derzeitige Sozialsystem „ist voller Widersprüche“, so der Präsident. Es gebe eine große Diskrepanz zwischen dem steuerrechtlichen und dem sozialrechtlichen Existenzminimum. „Das ist die Crux, die man überwinden muss.“ Die Fragen stellte Dirk Baas.

epd sozial: Seit Jahren wird hierzulande über die Kindergrundsicherung diskutiert, liegen durchgerechnete Konzepte auf dem Tisch. Warum geht es nicht wirklich voran oder sehen Sie schon Fortschritte in der Debatte?

Heinz Hilgers: Nein, die gibt es nicht. Das muss man klar sagen. Denn die Kindergrundsicherung ist ja der Vorschlag für einen grundlegenden Systemwechsel im Kampf gegen Kinderarmut. Dazu ist die Politik bislang nicht willens gewesen. Sie hat an ein paar Stellschrauben innerhalb des bestehenden Systems gedreht, und das war es. Das ist auch deswegen verheerend, weil die Kinderarmut in den zurückliegenden Jahren ständig gestiegen ist. Das gilt übrigens auch für die Zeiten, in denen die Arbeitslosigkeit gesunken ist.

epd: Das Bündnis Kindergrundsicherung, das Sie vor zwölf Jahren mitgegründet haben, ist noch immer nicht am Ziel ...

Hilgers: Ja, leider. Und das ist nicht nur für mich sehr enttäuschend. Auch, weil Kanzlerin Angela Merkel (CDU) das Problem 2017 zwar benannt, es aber nicht gelöst hat. Es wurden lediglich einige kleine Verbesserungen beim Kinderzuschlag beschlossen. Aber, und da sieht man, wie die Politik das Problem letztlich einordnet: Die Kosten dafür durften eine Milliarde Euro innerhalb von vier Jahren nicht überschreiten. So kann man Kinderarmut nicht mal im Ansatz beseitigen. Das ist und bleibt eine Mammutaufgabe, denn aktuell gelten rund drei Millionen Kinder hierzulande als arm.

epd: Was sind die Hintergründe dieses Stillstandes?

Hilgers: Das ist eine Haltungsfrage. Die Bundesregierungen der vergangenen Jahre haben nicht verstanden, dass die Kinder ihre Armut nicht selbst gewählt haben. Weder politisch noch persönlich. Sie werden hineingeboren in ein bestimmtes Milieu, aus dem sie sich nur ganz selten befreien können. Viele Studien weisen nach, dass Armut vererbt wird. Kinder aus armen Familien bleiben in diesem System gefangen. Sie kommen da einfach nicht raus. Auch, und das ist besonders schlimm, weil die Sozialsysteme so angelegt sind. Dazu kommt die hohe Dunkelziffer Betroffener. Millionen Berechtigte stellen keine Anträge auf staatliche Leistungen.

epd: Und das hat Folgen ...

Hilgers: Sicher. Denn das sind ja keine Einzelfälle. Wir gehen davon aus, dass bis zu 65 Prozent der Berechtigten keinen Kinderzuschlag beantragen und nur bis zu 50 Prozent Aufstockerleistungen beziehen. Auch wenn die das natürlich nicht wollen, verfälschen sie die Statistiken und damit die Berechnungen des nötigen Existenzminimums. Auch deshalb sagen wir: Es muss zunächst eine seriöse und transparente Neuberechnung des sogenannten soziokulturellen Existenzminimums für Kinder geben.

epd: Der Staat wird da nicht ranwollen ..

Hilgers: Vermutlich. Deshalb fordert unser Bündnis ja auch, eine unabhängige Expertenkommission auf Bundesebene einzusetzen, die diese Berechnungen anstellt. Da sollten Wissenschaftlerinnen, Sozial- und Wohlfahrtsverbänden sowie Gewerkschaften und Vertreter von Kinderorganisationen drin sitzen.

epd: Es gibt über ein Dutzend Studien aus dem zurückliegenden Jahrzehnt zum Thema Kinderarmut. Die Daten, wie viel Geld pro Kind und Monat gebraucht würde, um aus der Armut zu kommen, schwanken aber deutlich. Wie ist das zu erklären?

Hilgers: Das ist in der Tat ein schwieriges Feld. Natürlich gilt zunächst mal die fragwürdige Messlatte des Staates, der, etwa bei Hartz IV, festlegt, was im Regelsatz drin ist. Schon das ist in vielen Posten viel zu wenig. Wie wollen Sie für sieben Euro im Monat die komplette Säuglingspflege hinkriegen? Wer so etwas festlegt, hat noch nie in seinem Leben Windeln gekauft. Oder vier Euro täglich für die Ernährung eines 13-Jährigen. Das ist völlig weltfern. Dann hat die EU eine andere Festlegung der Armutsgrenze. Das Existenzminimum, das der Staat festsetzt, ist der Fixpunkt, den auch viele Forscher im Blick haben, die aber nicht nur unterschiedliche Daten haben und auswerten, sondern auch unterschiedliche Ansichten haben, wieviel Geld nötig ist, um Kinderarmut zu überwinden. In der Öffentlichkeit ist das oft schwer zu vermitteln, aber so funktioniert Forschung.

epd: Das Bündnis Kindergrundsicherung hat eigene Forderungen vorgelegt. Wie sehen die aus und wie lassen sie sich begründen?

Hilgers: Wir wollen als Zusammenschluss von 16 großen Verbänden alle Kinder mit einer Grundsicherung in Höhe von 695 Euro bis 330 Euro monatlich absichern, je nach der Höhe des Einkommens der Eltern. Damit wird der grundlegende Bedarf, den Kinder für ihre Entwicklung und für Teilhabe benötigen und den das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, gedeckt. Je höher das Einkommen, desto geringer fällt die Zahlung aus. Wir fordern das Niveau als Hilfen zu gewähren, das man im Steuerrecht anwendet, und zwar so lange, bis die staatliche Neuberechnung des Existenzminimums vorliegt und entsprechende Regelungen dann vom Bundestag beschlossen sind.

epd: Der Hinweis auf die Diskrepanz zum Steuerrecht ist interessant. Das sollten Sie noch mal erläutern.

Hilgers: Das heutige Sozialsystem ist voller Widersprüche ist. Der Staat stellt diejenigen Eltern mit Blick auf die Förderung ihrer Kinder besser, die viel verdienen. Das ist im Steuerrecht so geregelt. Im Gegensatz dazu gibt es viel weniger Geld für Familien mit kleinem Einkommen oder Erwerbslose, die auf staatliche Transfers wie das Kindergeld oder das Sozialgeld angewiesen sind. Das ist die Crux, die wir überwinden müssen. Denn alle Kinder sollten in gleichem Maße gefördert werden. Das steuerrechtliche Existenzminimum liegt bei knapp 700 Euro und damit deutlich höher als das sozialrechtliche Existenzminimum. Hier liegt ein Systemfehler. Deutschland ist das einzige Land, das denen, die viel Geld haben, am meisten für ihre Kinder gibt. Das tut niemand sonst auf der Welt.

epd: Warum braucht es so dringend diese Systemwechsel?

Hilgers: Wir haben zwei Millionen Kinder, die bei Personen leben, die erwerbstätig sind. Und trotzdem sind sie arm. Und warum? Nur weil sie Kinder haben. Mit jedem Kind steigt das Existenzminimum der Eltern. Die werden dann zu Hartz-IV-Aufstockern, weil ihr Verdienst etwa als Erzieherin oder Pflegekraft in Ballungsräumen mit hohen Mieten schlicht nicht ausreicht. Wären sie kinderlos, würde ihnen ihr Verdienst reichen und es wäre sogar ein Urlaub drin. Es ist auch Unsinn zu sagen, das müsse der Arbeitsmarkt regeln, Stichwort Mindestlohn. Es zahlt kein Unternehmen einen höheren Lohn, nur weil die Mitarbeiter Kinder haben. Das ist allein die Aufgabe eines gerechten Familienleistungsausgleichs. Das lässt sich nur durch einen kompletten Umbau erreichen, der zu einer einfachen automatischen Auszahlung der Hilfen führt. Aber das geschieht nicht.

epd: Reden wir über die Bundestagswahl, die Parteiprogramme und die Aufgaben einer künftigen Regierung. Wird sich etwas tun in Sachen Grundsicherung?

Hilgers: Ich hoffe es. Wenn man die Programme bewertet, dann sieht man sowohl bei den Grünen als auch bei der SPD und den Linken anschlussfähige Vorhaben, mit denen die Kinderarmut eingedämmt werden soll. Würden die über eine Koalition verhandeln, dann könnte da ein vernünftiges Konzept bei rauskommen. Da wäre zumindest eine gewisse Nähe zu unserem Vorhaben erkennbar. Bei der FDP ist immerhin im Wahlprogramm zu erkennen, dass sie das Problem erkannt hat. Aber das, was die Liberalen vorschlagen, nämlich ein „Kinderchancengeld“, ist von dem großen Misstrauen gegenüber den Eltern geprägt, dass die Geld, das man ihnen für die Kinder gibt, zweckentfremden. Dabei gibt es keine einzige seriöse Studie die das belegt. Hier scheint wieder eine Haltung bis in die höchste Politik hinein durch, die zutiefst menschenfeindlich ist. Man gibt prinzipiell den Betroffenen die Schuld an ihrer eigenen Armut. Die werden als Schmarotzer gesehen.

epd: Sie fordern wegen der hohen Dunkelziffer an Personen, die ein Recht auf staatliche Hilfen haben, sie aber nicht nutzen, eine automatische Auszahlung der Gelder. Gibt es da ebenfalls Anknüpfungspunkte in den Wahlprogrammen?

Hilgers: Bis jetzt hatte die SPD damit so ihre Schwierigkeiten. Vielleicht zieht sie ja Lehren aus der automatischen Auszahlung der Mindestrente. Bei den Grünen findet sich dieser Vorschlag. Das ist gut, denn so lässt sich die Dunkelziffer ein für allemal beseitigen.

Internet: Informationen des Bündnisses: http://www.kinderarmut-hat-folgen.de/



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