Berlin, Essen (epd). Noch gibt es sie, aber es werden immer weniger: Zeitzeugen der Verfolgung und Ermordung von Juden, Homosexuellen, Sinti und Roma und weiteren Minderheiten unter den Nationalsozialisten. Wie eine Umfrage des Evangelischen Pressedienstes (epd) unter den KZ-Gedenkstätten ergab, können immer weniger Bildungseinrichtungen auf Zeitzeugen zurückgreifen, die mit der Schilderung ihres Schicksals den Schrecken greifbar machen. 78 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind inzwischen viele gestorben. Selbst diejenigen, die damals Kinder waren, sind heute hochbetagt und oft gar nicht mehr oder nur noch eingeschränkt fähig zu reisen, wie die Gedenkstätten mitteilten.
„Leider werden es immer weniger, da nicht mehr viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen am Leben sind“, sagte Sabine Wotzlaw von der Stadt Köln dem epd. So habe das Kölner NS-DOK im vergangenen Jahr nur drei Veranstaltungen dieser Art anbieten können. In den kommenden Jahren seien deshalb Gespräche mit Zeitzeugen der zweiten und dritten Generation angedacht, kündigte Wotzlaw an.
Auch viele andere Gedenkstätten laden inzwischen Nachfahren von Schoah-Überlebenden ein, etwa die NS-„Euthanasie“-Gedenkstätte im hessischen Hadamar oder die KZ-Gedenkstätte in Wöbbelin (Mecklenburg-Vorpommern). „Die uns bekannten Überlebenden des KZ Niederhagen sind mittlerweile alle verstorben“, sagte auch Kirsten John-Stucke von der Wewelsburg in Büren bei Paderborn. An der jährlichen Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Befreiung des Konzentrationslagers am 2. April 1945 hätten zuletzt deren Angehörige - Kinder, Enkelkinder - teilgenommen.
„Erinnerungspaten“
Der Erinnerungsort Villa ten Hompel in Münster hat das Format der „Erinnerungspaten“ ins Leben gerufen. Dabei berichteten Menschen über das Leben von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die sie intensiv persönlich gekannt hätten, erklärte Sprecher Peter Römer. Auch in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg (Bayern) arbeitet man nach Angaben eines Sprechers vermehrt an Formaten, in denen Angehörige ehemaliger Häftlinge aus der zweiten oder dritten Generation mit Jugendlichen reden. „Zweitzeugen“ nennt das die Gedenkstätte für NS-Opfer im rheinland-pfälzischen Neustadt.
„Zweitzeugen“ heißt auch ein Verein in Essen, der darunter aber etwas anderes versteht: Er vermittelt Kindern und Jugendlichen Zeitzeugenberichte und will sie so selbst zu Zeugen - eben „Zweitzeugen“ - machen, die die Erinnerung an die Opfer des Holocaust aufrechterhalten.
Zwar könne nichts die persönliche Erzählung eines Überlebenden ersetzen, sagte Vorstandsmitglied Ruth-Anne Damm dem epd. Dennoch sei es wichtig, die Geschichte des Holocaust über menschliche Schicksale zu vermitteln. Zahlen und Fakten schüfen im Übermaß Überdruss. „Wir müssen aufpassen, dass Erinnerung mit dem Schwinden der Zeitzeugen nicht entmenschlicht wird“, sagte Damm. 20.000 Kinder und Jugendliche hat der Verein nach eigenen Angaben bereits zu „Zweitzeugen“ gemacht.