Hannover, Syke (epd). Felicia Balzer (24) rückt ihren Stuhl nahe an Benedikts Rolli heran. Mit sanftem Druck legt die Heilpädagogin seine Hand auf ihre. Der Tisch im Wohn-Esszimmer liegt voller Papiere, Bunt- und Klebestifte. „Na Benedikt, komm, jetzt schreiben wir Denise einen Brief“, fordert sie den 23-Jährigen auf. Aufrecht angeschnallt sitzt der junge Mann in seinem Spezialgefährt. Seinen freundlich-warmen Blick richtet er starr geradeaus. Gemeinsam drücken sie den Stift auf das Papier, schreiben in langsamen Schwüngen: „Liebe Denise“. Sie ist Benedikts Freundin. Als eine Sprachnachricht von ihr ertönt, huscht ein Lächeln über sein Gesicht.

Dass sie einander Stimme, Hand, Gedanken oder Ideen leihen, ist Alltag in dieser besonderen WG in Hannover-Anderten. Drei schwerstmehrfachbehinderte junge Menschen mit einer lebensbegrenzenden Erkrankung - Benedikt, Clara und Christian - und zwei nichtbehinderte junge Menschen - David und Anna - leben unter einem Dach. Die einen im Erdgeschoss, die anderen im Obergeschoss. Ein offenes Treppenhaus mit Galerie verbindet die Ebenen. Rund um die Uhr kümmern sich Pflegekräfte um die behinderten Bewohner. Tagsüber leiten die beiden Pädagoginnen Felicia Balzer und Doreen Eicke gemeinsame Aktivitäten an.

„Ein möglichst eigenständiges Leben führen“

David (23) stört der Trubel nicht, der in der WG manchmal herrscht. Am liebsten geht er mit Benedikt und Pfleger Adil spazieren. „Und ich mag es, wenn wir alle zusammen hier am großen Tisch essen oder spielen“, sagt David und lächelt schüchtern. Der junge Kubaner lebt erst seit anderthalb Jahren in Deutschland. Vor vier Monaten hat er eine Lehre zur Fachkraft für Büromanagement begonnen. Für ihn ist die WG eine Chance, neue Leute kennenzulernen. „Ich glaube aber auch, dass es mich zu einem besseren Menschen macht, zum Leben von Menschen mit Behinderung etwas beizutragen.“

Die WG ist ein bundesweit einzigartiges Modellprojekt des Kinder- und Jugendhospizes „Löwenherz“ in Syke bei Bremen. „Wir fanden den Gedanken sinnvoll, dass auch schwerstbehinderte junge Erwachsene, die in der Kommunikation und in der Bewegung stark eingeschränkt sind, ein möglichst eigenständiges Leben führen“, sagt dessen Leiterin Gaby Letzing. Familien, die mit ihren kranken Kindern immer wieder in ihrem Haus zu Gast seien, hätten den Wunsch an sie herangetragen.

50.000 Kinder und Jugenliche mit lebensverkürzender Erkrankung

Etwa 50.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland leben mit einer lebensverkürzenden Erkrankung. Viele sind schwerstbehindert, sterben im Kinder- oder Jugendalter. Weil sich die medizinische Versorgung stetig verbessert, erreichen aber immer mehr das Erwachsenenalter. Es sei normal, dass erwachsene Kinder irgendwann zu Hause ausziehen, sagt Matthias Akkermann. Seine Tochter Clara (21) lebt seit fast einem Jahr in der damals neu gegründeten WG. „Es ist toll zu sehen, dass sie in der Löwenherz-WG in ihrem Rahmen eigenständig leben kann.“

Dennoch bleiben die Eltern zumindest zu Beginn die Experten für ihre Kinder. „Clara kann nicht wirklich entscheiden und sagen, was sie will“, sagt Mutter Almut Akkermann. Die Fachkräfte müssten Mimik und Gestik deuten lernen und sich einfühlen. Die Eltern der behinderten Kinder haben das Konzept gemeinsam mit dem Kinderhospiz und dem Pflegedienst „krank und klein“ aus Sulingen entwickelt. Sie tauschen sich regelmäßig mit Pflegekräften und Pädagoginnen aus.

Die behinderten WG-Bewohner sollen in den Alltag so gut es geht einbezogen werden, findet Claras Vater. „Clara braucht Anregungen, sonst macht sie die Augen zu.“ Die Pflegekräfte gehen mit den Bewohnern einkaufen, spazieren, hören Musik. Die Pädagoginnen organisieren Aktivitäten für alle - Backen, Kinobesuch, Harry-Potter-Abend, Biergarten-Ausflug.

„Plötzlich Freiheit“

Doch nicht nur für Clara, auch für die übrigen Akkermanns hat ein neuer Lebensabschnitt begonnen. „Wir haben plötzlich eine unglaubliche Freiheit. Meine Frau und ich können abends mal gemeinsam ausgehen“, schwärmt Matthias Akkermann. „Allein dass wir nach 21 Jahren durchschlafen können, ist schon toll“, ergänzt seine Frau. „Und wir genießen es ganz besonders, wenn wir Clara am Wochenende besuchen oder sie mit uns in den Urlaub fährt.“

Unterdessen sitzt Clara mit den anderen am großen WG-Esstisch. David faltet einen Papierschwan und zeigt ihn ihr. Sie sitzt ihm gegenüber in ihrem Rollstuhl und dreht ganz sachte den Kopf. Ihre Hände zucken. Dass mit Clara, Benedikt und Christian irgendwann auch das Thema Abschiednehmen und Sterben die noch junge Gemeinschaft erreichen wird, stört David nicht. Das sei normal, sagt er: „Ich möchte versuchen, ihnen das Leben einfacher zu machen und sie zu begleiten.“