Berlin, São Paulo (epd). Jeden Abend um acht reißen die Brasilianer ihre Fenster auf und schlagen auf Pfannen und Töpfe. Mit Rufen wie "Lügner" und "Bolsonaro weg" machen sie ihrer Wut gegen ihren Präsidenten Luft. Denn der rechtsextreme Politiker leugnet noch immer die Gefahr durch die Corona-Pandemie. Stattdessen wettert Jair Bolsonaro im Fernsehen gegen die Hysterie der Medien, die die "kleine Grippe" zu einer Bedrohung aufbauschten. "Warum also die Schulen schließen", sagte er. "Wir müssen zur Normalität zurückkehren."
Bis zum 25. März hatten sich in Brasilien offiziell etwa 2.500 Menschen mit Covid-19 infiziert, 57 Patienten sind gestorben. Die Zahlen könnten jedoch bald rapide steigen. Das staatliche Gesundheitswesen steht auch ohne Corona-Patienten vor den Kollaps. Es fehlt an Desinfektionsmitteln und Schutzkleidung. Auf 100.000 Einwohner kommen drei Beatmungsgeräte.
Zwei-Klassen-Epidemie
Schon jetzt befürchten Experten eine Zwei-Klassen-Epidemie. Die ersten Fälle von Covid-19-Infektionen tauchten bei Rückkehrern aus Italien auf oder bei Menschen, die mit ihnen Kontakt hatten. Das erste Todesopfer des Landes war jedoch die Hausangestellte einer Italien-Urlauberin aus der Oberschicht in Rio de Janeiro.
Wenn sich das Virus in den Armenvierteln und in der dicht besiedelten Peripherie der Großstädte ausbreitet, ist es nicht mehr zu stoppen. In den Armenvierteln von Rio und São Paulo ist die Angst groß. Oft wohnen vier oder mehr Menschen in einem Raum eng beieinander. Erkrankungen wie Tuberkulose oder unbehandelter Bluthochdruck und Diabetes seien dort weit verbreitet, sagt der Mediziner Mário Roberto Dal Pol von der Staatlichen Universität in Rio de Janeiro (UERJ). "Damit sind die Auswirkungen für diese Menschen sehr viel schlimmer, die Tragödie kann sehr groß sein."
Ureinwohner besonders bedroht
Ebenfalls besonders bedroht sind Ureinwohner in den Schutzgebieten. Sie sind für Infektionskrankheiten besonders anfällig. Der Indianermissionsrat Cimi meldet bereits erste Corona-Fälle im Amazonasgebiet. Nordamerikanische evangelikale Prediger versuchten in die Schutzgebiete vorzudringen, was eine zusätzliche Gefahr für die Menschen bedeute.
Aus Angst vor einer massiven Ausbreitung des Virus haben die Drogengangs in Rios Favelas noch vor der Regierung die Initiative ergriffen und eine Ausgangssperre verhängt, verbunden mit einer unverhohlenen Botschaft für alle, die sich dagegen auflehnen. "Wenn die Regierung nicht in der Lage ist, das Problem anzugehen, wird es das organisierte Verbrechen lösen", hieß es in der Nachricht an die Bewohner. Mehr als die Hälfte der Bewohner der 6,3-Millionen-Metropole leben in Armenvierteln.
"Krimineller Opportunismus"
Während Präsident Bolsonaro Verschwörungstheorien verbreitet, haben die Gouverneure von Bundesstaaten wie São Paulo und Rio de Janeiro drastische Maßnahmen beschlossen und eine 14-tägige Quarantäne verhängt. 22 der 27 Gouverneure koordinieren sich inzwischen unabhängig von der Zentralregierung. In São Paulo werden Messezentren und Fußballstadien zu provisorischen Hospitälern umgewandelt. In Rio sind die Strände gesperrt und leer. Überall patrouillieren Polizei und Militär.
Der Machtkampf zwischen den Gouverneuren und Bolsonaro wird offen ausgefochten. Bolsonaro verlangt von den Gouverneuren, Geschäfte und Kirchen zu öffnen. Er macht seine Gegner für den Verlust von Arbeitsplätzen und eine Verschärfung der ökonomischen Krise im Land verantwortlich. Sein Kalkül ist dabei eindeutig, wie der Politikwissenschaftler Luiz Eduardo Soares sagt. "Er hat die Verantwortung in dieser extremen Krise an die Gouverneure abgegeben. Wenn das Volk leidet und hungert, hat er keine Verantwortung", sagt Soares. "Er spielt sich als Beschützer des Volkes auf und zeigt einen geradezu kriminellen Opportunismus."
Bolsonaro verliert auch in der eigenen Regierung und vor allem bei einem seiner bislang engsten Verbündeten den Rückhalt - dem Militär. Der Kampf gegen das Coronavirus sei die "größte Mission unserer Generation", erklärte der Oberbefehlshaber des brasilianischen Militärs, General Edson Pujol. Das Militär hilft bereits jetzt den Bundesstaaten im Kampf gegen die Pandemie. Auch Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta, der als kompetent gilt, wurde von Bolsonaro mehrfach aufgefordert, sich an seine politische Linie zu halten. Medien spekulieren inzwischen, wie lange es dauert, bis Mandetta seinen Rücktritt einreicht.