Berlin (epd). Katja Winkler hat derzeit alle Hände voll zu tun, um den Betrieb des Berliner Frauenhauses BORA am Laufen zu halten. "Wir sind in einer extremen Situation", sagt die Leiterin der Einrichtung. Mehrere Mitarbeiterinnen musste sie nach Hause schicken, weil sie aus gesundheitlichen Gründen zur Corona-Risikogruppe gehören oder kleine Kinder zu Hause betreuen müssen. Zugleich sind Winkler und ihre einzige im Dienst verbliebene Kollegin damit beschäftigt, verängstigte Bewohnerinnen zu beruhigen sowie schützende Hygienemaßnahmen zu erklären und zu kontrollieren.
Sie muss außerdem Lebensmittel besorgen, weil der für das Haus tätige Supermarkt-Lieferdienst wegen der vielen Hamster-Käufer plötzlich Mengenbeschränkungen erlassen hat. Und Winkler befürchtet, dass es noch schwieriger wird: "Schon jetzt rufen mehr Frauen an, die Hilfe benötigen."
Dynamik der Gewalt
"Wenn die Leute mehr zu Hause aufeinandersitzen, fördert das automatisch eine Dynamik der Gewalt", sagt auch Sylvia Haller von der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser, in der rund 100 Einrichtungen organisiert sind. "Mir graut, wenn ich daran denke, was sich da jetzt in manchen Familien zu Hause abspielt."
Durch die derzeitigen Einschränkungen steige die Gefahr für Frauen und Kinder, Opfer häuslicher und sexualisierter Gewalt zu werden, warnte auch Katja Grieger vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) schon vor einigen Tagen. Aus China gebe es ähnliche Erfahrungen, erklärten der Bundesverband und weitere Organisationen: Nach Angaben einer Pekinger Frauenorganisation habe sich die Zahl der hilfesuchenden Frauen in der Zeit der Quarantäne verdreifacht.
Auch für Kinder steige das Risiko
Derzeit meldeten sich in den deutschen Beratungsstellen zwar noch nicht mehr Frauen als gewöhnlich, berichtet Grieger. "Wir sind aber sicher, dass es eine erhöhte Nachfrage in den Beratungsstellen geben wird, sobald wieder Normalität eingekehrt ist." Der Grund für die Prognose einer "zeitversetzten" Entwicklung: Es sei für viele Frauen jetzt noch schwieriger als sonst, Hilfe zu suchen, denn die Männer seien ständig zu Hause: "Gewalttätige Männer überwachen nicht selten auch die Telefon- und Handykontakte der Frauen."
Der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Thomas Fischbach, warnt außerdem davor, dass auch für Kinder das Risiko häuslicher Gewalt steige, weil sie nicht in die Schule oder Kita gehen können. Und Sylvia Haller von der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser sagt: "Die Situation wird sich zuspitzen."
Plätze bereits jetzt knapp
Frauenorganisationen befürchten, dass das Hilfenetz für Gewalt-Opfer in dieser Situation zu schwach sein könnte. Das Problem sei, dass Plätze in Frauenhäusern bereits jetzt knapp seien, erklärt Grieger. "Die Krise trifft auf ein System, das ohnehin schon an der Grenze ist." Sylvia Haller rechnet sogar damit, dass die Zahl der freien Frauenhausplätze in den nächsten Monaten noch sinken wird. "Wir gehen davon aus, dass irgendwann auch Corona-Fälle in Frauenhäusern auftreten und die dann unter Quarantäne stehen."
Deshalb sei es dringend notwendig, jetzt zu handeln. "Wir sollten nicht erst in zwei Wochen anfangen zu überlegen, wie wir mit dem Problem umgehen", fordert Haller. Denkbar sei etwa die Anmietung von Hotels, um Frauen und Kinder aufzunehmen, die Opfer von häuslicher Gewalt sind. Jetzt müsse das Bundesfrauenministerium unterstützend eingreifen, fordert sie.
Rund um die Uhr erreichbar
Auch Bundesfrauenministerin Franziska Giffey (SPD) befürchtet, dass die Gewalt gegen Frauen in den kommenden Wochen zunehmen wird. Sie betonte, dass betroffene Frauen aber ungeachtet der Ausgangsbeschränkungen jederzeit das Haus verlassen könnten, um Hilfe zu suchen. Ihr Ministerium werde außerdem dafür sorgen, dass das bundesweite Hilfetelefon weiter rund um die Uhr erreichbar sein werde.
Anlaufstellen für Gewaltopfer finden sich auch auf der Internetseite des bff, und natürlich seien die Frauenhäuser vor Ort immer Anlaufstelle. Trotz knapper Ressourcen verspricht Haller: "Wir finden eine Lösung."
Die Beratungsstellen appellieren auch an Nachbarn, Familie und Bekannte, derzeit besonders wachsam zu sein: "Wenn der Verdacht besteht, dass eine Frau Opfer häuslicher Gewalt ist, sollte man fragen, ob sie Hilfe benötigt", rät Haller. Wenn man unsicher ist: Das bundesweite Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" berät auch Menschen, die Gewalt-Opfer unterstützen wollten.