Berlin/Sanaa (epd). Inmitten des Krieges arbeitet Radhya al-Mutawakel im Jemen für die unabhängige Menschenrechtsorganisation Mwatana, die gut 60 Mitarbeiter hat. Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) berichtet sie aus der Hauptstadt Sanaa, wie die Menschen ihren Alltag zwischen Leben und Tod zu bewältigen versuchen - drei Jahre nach Beginn der Luftangriffe, die eine saudi-arabische Militärallianz gegen Huthi-Rebellen im Jemen führt.
epd: Frau al-Mutawakel, die Nachrichten aus dem Jemen sind seit Jahren katastrophal. Wie empfinden Sie die Situation in Sanaa?
Radhya al-Mutawakel: Es ist kompliziert, denn Leben und Tod liegen nahe beieinander. Hinter jeder Haustür gibt es eine traurige Geschichte. Die Menschen sterben im Verborgenen, weil es kein Gesundheitssystem mehr gibt, wegen Hunger - oder die Depression treibt sie in den Tod. Und sie sterben durch Folter, Bomben oder Minen. Im Alltag versucht man nicht daran zu denken, aber allen ist bewusst, dass sie jede Nacht sterben können.
epd: Wie bewältigen Sie Ihr tägliches Leben?
Al-Mutawakel: Es fühlt sich unwirklich an, aber trotzdem habe ich noch großes Glück. Denn es gibt keinen Strom in der Stadt, aber ich bekomme welchen über unser Solarsystem. Ich habe Internet, obwohl es sehr schwach und langsam ist. Viele Menschen bekommen seit über einem Jahr gar kein Gehalt mehr. Die Mittelklasse, Menschen, die dachten, sie würden nie arm sein, verkaufen ihre Besitztümer und verbrauchen das Ersparte. Sie können sich nicht überwinden, zu betteln und leiden im Stillen.
epd: Sieht man viele bewaffnete Huthi-Kämpfer auf der Straße?
Al-Mutawakel: Man sieht sie in der Stadt oder in Autos, aber es gibt keine Checkpoints. Die sind eher außerhalb der Stadt und werden von verschiedenen Gruppen errichtet. Früher brauchte man beispielsweise fünf Stunden, um von Sanaa nach Aden zu fahren. Heute sind es zehn. Viel schlimmer als in Sanaa ist die Lage aber zum Beispiel in der Stadt Tais: Dort gibt es keinen Alltag mehr, es gibt tägliche Kämpfe verschiedener Milizen, Bombardierungen, Zivilisten werden verschleppt, gefoltert und getötet.
epd: Wie ist die Lage der Frauen im Jemen?
Al-Mutawakel: Armut und Krieg wirken sich vor allem auf die Frauen aus. Viele haben ihren Mann, ihren Ernährer, verloren und stehen in langen Schlangen an, um Wasser oder Treibstoff zu bekommen. Die Zahl der Kinderehen steigt. Für unsere Organisation Mwatana haben wir im vergangenen Jahr 89 Luftschläge im ganzen Land dokumentiert, bei denen mehr als 300 Menschen getötet wurden: Mehr als die Hälfte der Opfer waren Frauen und Kinder.
epd: Was würden Sie sich von einem Land wie Deutschland wünschen, das mächtig ist und enge Beziehungen zu Saudi-Arabien pflegt?
Al-Mutawakel: Die Deutschen haben sich im UN-Menschenrechtsrat dafür eingesetzt, dass es eine Untersuchung von Kriegsverbrechen im Jemen geben soll. Ich hoffe, sie werden da noch mehr tun und auch, dass sie keine Waffen an Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate verkaufen. Deutschland hat im Jemen keinen schlechten Ruf und könnte eine wichtige Rolle in einem Friedensprozess einnehmen.
epd: Überlegen Sie manchmal, den Jemen zu verlassen?
Al-Mutawakel: Nein. Im vergangenen Jahr war ich gemeinsam mit meinem Ehemann und Kollegen in den USA, um für Menschenrechte im Jemen einzutreten. Wir wurden massiv attackiert, es gab eine regelrechte Hasskampagne vonseiten der Unterstützer der saudischen Militäroperation im Jemen. Sie wollen nicht, dass die jemenitische Seite Gehör findet. Als wir die Rückreise antraten, hieß es, wir würden nach der Ankunft am Flughafen festgenommen. Wir sind das Risiko eingegangen und trotzdem zurückgekehrt, denn wir haben hier eine Aufgabe.
epd: Werden Sie auch in Sanaa für Ihre Arbeit angegriffen?
Al-Mutawakel: Wir sind eine unabhängige Organisation, die inmitten bewaffneter Gruppen arbeitet. Es gibt viele Gefahren und Schwierigkeiten, aber wir arbeiten neutral und professionell und merken, dass uns das einen gewissen Respekt, gar Schutz verschafft.