sozial-Branche

Kriminalität

Entsetzen nach Tötung von vier Schwerstbehinderten in Potsdam




Trauernde am Postdamer Oberlinhaus
epd-bild/Rolf Zöllner
In einer Potsdamer Behinderteneinrichtung sind vier Bewohner getötet worden. Unter Verdacht steht eine Mitarbeiterin des Diakonie-Trägers. Stadt und Land, Kirche und Diakonie sind fassungslos.

Rote und weiße Rosen, Kerzen, Blumengestecke und Blumensträuße liegen neben dem Haus. "Gott, warum?", haben Menschen aus dem Potsdamer Oberlinhaus der evangelischen Diakonie auf ein großes Blatt Papier geschrieben: "Warum dürft ihr nicht mehr bei uns sein?" Eine Frau mit Corona-Maske kommt vorbei und legt einen weiteren Blumenstrauß vor dem Thusnelda-von-Saldern-Haus des Sozialträgers ab, in dem in der Nacht zum 29. April vier Menschen mit schwersten Behinderungen gewaltsam zu Tode kamen.

Die Polizei ist noch immer vor Ort im Einsatz. Ein Mann im weißen Schutzanzug ist in einem Fahrzeug der Kriminalpolizei zugange. Polizeiwagen fahren vor, Beamte gehen zum Eingang der Behinderteneinrichtung und verlassen kurz danach mit einigen Papieren wieder das Gelände. Der Wachschutz sorgt dafür, dass keine Unbefugten oder Medienvertreter das Gelände betreten.

Vieles ist noch unklar

Über das Gewaltverbrechen ist zunächst nicht viel bekannt. In der Nacht seien im Bereich des Oberlinhauses vier Tote und eine schwer verletzte Person aufgefunden worden, hieß es bei der Polizei: "Die Verletzungen aller Opfer sind nach bisherigen Erkenntnissen auf schwere, äußere Gewaltanwendung zurückzuführen." Eine 51-jährige Mitarbeiterin des Sozialträgers sei unter dringendem Tatverdacht festgenommen worden. Die Staatsanwaltschaft Potsdam und eine Mordkommission der Polizei ermitteln wegen des Verdachts auf Totschlag.

Noch am 29. April wurde vom Amtsgericht Potsdam die Unterbringung der Tatverdächtigen in einer psychiatrischen Klinik angeordnet. Das sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Potsdam dem Evangelischen Pressedienst (epd). Weitere Angaben würden mit Rücksicht auf die laufenden Ermittlungen und aus Gründen des Schutzes des Persönlichkeitsrechts nicht gemacht, sagte der Sprecher.

Der theologische Vorstand des Oberlinhauses, Pfarrer Matthias Fichtmüller, tritt später sichtlich mitgenommen vor die Presse. Beschäftigte und Bewohnerinnen und Bewohner seien in Schockstarre und "erschüttert in ihrem Innersten", sagt der evangelische Pfarrer: "Alle menschlichen Emotionen bewegen uns in diesen Stunden." 65 Wohnplätze für Menschen mit schwersten Mehrfachbehinderungen hat das Thusnelda-von-Saldern-Haus, 80 Menschen arbeiten dort und kümmern sich um die Menschen, die dort leben.

"Große Erschütterung im Selbstverständnis"

Der gewaltsame Tod der vier Menschen mit schwersten Behinderungen sei für alle auch eine "große Erschütterung im Selbstverständnis", sagt Fichtmüller. Dennoch müsse weiter gearbeitet werden. Die anderen Bewohnerinnen und Bewohner brauchen weiter Hilfe, müssen versorgt werden. Die Situation sei so, "dass wir noch gar nicht zum Trauern kommen", sagt Fichtmüller: "Gleichzeitig müssen wir weiter funktionieren."

Für den Abend kündigte Fichtmüller eine Gedenkandacht in der Oberlinkirche auf dem Gelände des Sozialträgers an. Auch Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) wollte daran teilnehmen und davor Blumen am Thusnelda-von-Saldern-Haus niederlegen. "Meine Gedanken gelten den Opfern und meine Anteilnahme den Angehörigen", erklärt Woidke: "Es ist eine grauenhafte Tat, die die Stadt Potsdam und ganz Brandenburg zutiefst erschüttert."

Woidke spendet Trost

Er wünsche dem schwer verletzten fünften Opfer Genesung, den Pflegekräften und den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern viel Kraft, betont der Ministerpräsident: "Im Oberlinhaus, dessen Arbeit ich sehr schätze, leben insbesondere Menschen, die unseres besonderen Schutzes bedürfen. Umso erschreckender ist die Tat."

Auch in Kirche und Diakonie, in der Stadt- und Landespolitik ist die Bestürzung groß. "Die schreckliche Bluttat in der vergangenen Nacht" erfülle den Landtag "mit Entsetzen und mit viel Traurigkeit", sagt Parlamentspräsidentin Ulrike Liedtke (SPD) am 29. April kurz vor Beginn der Plenarsitzung in Potsdam.

"Wir sind entsetzt und erschüttert über dieses Verbrechen an den Schwächsten und Schutzbedürftigsten in unserem diakonischen Haus", erklären der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Christian Stäblein, und die Vorständinnen Barbara Eschen und Andrea Asch vom Diakonischen Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz: "Es ist ein trauriger Tag, ein schwarzer Tag." Auch der Bischof wollte am Abend an der Gedenkandacht teilnehmen.

In zwei Wochen sollen Angehörige in einem Gedenkgottesdienst Abschied nehmen können. Das Oberlinhaus, das in diesem Jahr auch die Gründung des Oberlinhaus-Vereins vor 150 Jahren begehen will, werde nun "mit dieser Wunde leben müssen", sagt Vorstand Fichtmüller noch. Auch das Jubiläum werde unter dem Eindruck der Ereignisse stehen.

Am Thusnelda-von-Saldern-Haus bleibt der kleine Ort des Gedenkens zurück. "Wir können das nicht begreifen", steht dort auf einer Trauerbekundung von fünf Einrichtungen des Oberlinhauses: "Die Welt ist über uns zusammengebrochen."

Yvonne Jennerjahn