

Hamburg (epd). Der Kontakt älterer Menschen mit Angehörigen oder Freunden verlagert sich in der Pandemie stark ins Digitale. Wichtige Behördengänge, wie etwa die Vereinbarung eines Impftermins, sind oft nur noch online möglich. Der Hamburger Verein "Wege aus der Einsamkeit" will deshalb Senioren einen sicheren Umgang mit Smartphone und Tablet vermitteln. Mit der 64-jährigen Gründerin und Vorstandsvorsitzenden des Vereins, Dagmar Hirche, sprach Imke Plesch.
epd sozial: Frau Hirche, wie hat sich Ihrer Ansicht nach die Corona-Pandemie auf die Digitalisierung von älteren Menschen ausgewirkt?
Dagmar Hirche: Ich weiß gar nicht, wie sehr ich den Hut vor den Senioren ziehen soll. Durch Corona hat eine extreme Digitalisierung stattgefunden. Am 25. März 2020 haben wir mit unserem Verein das erste Zoom-Meeting angeboten. 30 Senioren haben sich getraut. Seitdem haben mehr als 9.600 Gäste an über 230 Zoom-Meetings teilgenommen. Wir spielen gemeinsam "Stadt - Land - Fluss", machen Sitztanz oder kochen zusammen. Und zweimal die Woche bieten wir weiterhin digitale Tablet- und Smartphone-Übungsstunden an. Außerdem haben wir Erklärvideos auf unseren Youtube-Kanal gestellt.
epd: Wer nimmt an ihren digitalen Treffen teil?
Hirche: Wir haben über 2.000 Senioren angeschrieben, die schon mal in einer Schulung bei uns waren und bereits digitale Grundkenntnisse haben. Während wir vor Corona viele über 70-Jährige in unseren Schulungen hatten, haben sich im zweiten Lockdown eher die 65- bis 70-Jährigen bei uns gemeldet. Als Älteste war neulich eine 95-Jährige mit dabei. Für absolute Anfänger ist das Angebot allerdings leider nichts. Wer nicht weiß, wie er ein Smartphone anschaltet, kann nicht an einem Zoom-Meeting teilnehmen. Diese Menschen haben wir im Moment definitiv verloren - genauso wie diejenigen, die sich kein Wlan leisten können.
epd: Und wie wollen Sie diese Menschen zukünftig erreichen?
Hirche: Wir haben eine Warteliste, auf der mehr als 300 Leute stehen. Sobald wir wieder anfangen können mit den analogen Schulungen, werden wir nur noch die absoluten Anfänger schulen. Da wollen wir sie dann so fitmachen, dass sie zumindest eine Internetseite aufrufen können.
epd: Haben sich auch ältere Menschen an Sie gewandt, die Fragen zur Vereinbarung eines Impftermins hatten?
Hirche: Wir hatten extrem viele Anrufe - ich habe Anfang des Jahres mit etwa 500 verzweifelten Senioren aus ganz Deutschland telefoniert. Das war bei allen Seniorenvereinen und Wohlfahrtsverbänden so. Die Vereinbarung von Impfterminen nur online anzubieten, wo doch nur etwa 23 Prozent der 80-Jährigen online sind, war eine Unverschämtheit vom Staat. Jetzt hat sich das etwas beruhigt.
epd: Was kritisieren Sie an der Politik?
Hirche: Die über 65-Jährigen werden bei der Digitalisierung vom Staat vergessen. Die Welt wird immer digitaler, aber dann muss der Staat auch dafür sorgen, dass sich beispielsweise jeder Wlan leisten kann! Nicht nur alte Menschen, auch Menschen mit wenig Geld. Das ist ein gesellschaftliches Problem, auf das überhaupt kein Fokus gelegt wird.
epd: Sie haben in der Pandemie etwa 100 Tablets an Altenheime verliehen. Wie wurde das angenommen?
Hirche: Viele Altenheime, die wir angerufen haben, haben gesagt: 'Das ist eine schöne Idee, aber wir haben kein Wlan.' Sie haben die Geräte meistens trotzdem genommen und dann haben teilweise die Pflegerinnen, die selbst wenig Geld verdienen, mit ihren eigenen Geräten einen Hotspot aufgemacht, damit die Bewohner wenigstens per Videotelefonie ihre Angehörigen sehen und hören können. Dafür muss man sich doch in Grund und Boden schämen.
epd: Sie fordern schon lange flächendeckend Wlan in Altenheimen ...
Hirche: Analog zum digitalen Schulpakt müsste es auch einen digitalen Pakt für die Altenheime geben. Es gibt eine Förderung von 12.500 Euro für die digitale Grundausstattung von Altenheimen, die aber oft nicht abgerufen wird. Es reicht auch nicht, die Heime nur technisch auszustatten, es muss auch digitale Bildung geben und einen Ansprechpartner.
epd: Sind Sie durch Corona einen Schritt weitergekommen?
Hirche: Ich will nicht pessimistisch sein: Wir sind vielleicht zwei Trippelschritte nach vorn gekommen, weil dem Thema jetzt mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Aber trotzdem heißt es meistens noch: Wofür brauchen die das denn? Das vorherrschende Altersbild ist leider sehr stereotyp und schematisch. Und wenn es nur zwei Bewohner sind, die das nutzen - es sollte einfach selbstverständlich sein.
epd: Wie könnte das kostenfreie Wlan in Altenheimen genutzt werden?
Hirche: Es gibt 100 Sachen, die man machen könnte. Meine Wunschvorstellung ist: In jedem Zimmer im Altenheim ist der Fernseher internetfähig und mit dem Wlan verbunden. Wenn der Bewohner sagt: 'Liebes Sprachsystem, ich möchte diesen oder jenen Sketch mit Heinz Erhardt sehen', sucht das System den Sketch auf Youtube und spielt ihn über den Fernseher ab. Oder man ruft die Angehörigen an und sieht sich digital. Auch die Therapeuten und Musiker, die aufgrund der Corona-Bestimmungen zurzeit nicht in die Heime dürfen, könnten sich auf dem Fernseher zuschalten. Das ist doch besser als gar nichts! Auch für Menschen mit Demenz gibt es online viele Anwendungen und spezielle Spiele.
epd: Immer mehr Dienstleistungen oder Behördengänge sind nur noch online möglich. Was halten Sie davon?
Hirche: Ich glaube, das können wir nicht mehr aufhalten, da würden wir gegen Windmühlen kämpfen. Und auch wenn man viele Dinge heute theoretisch auch noch telefonisch regeln kann, sieht das in der Praxis so aus: Die besten Termine beim Bürgeramt gibt es online. Wenn ich telefonisch einen Termin vereinbaren will, bekomme ich nur noch die Reste. Das hat man auch bei den Corona-Impfungen gemerkt: Die Leute haben teilweise hundert- oder zweihundertmal bei den Hotlines angerufen und sind nicht durchgekommen.
epd: Was sollte Ihrer Meinung nach passieren, damit niemand abgehängt wird?
Hirche: Ich fordere: Wer digitale Produkte oder Dienstleistungen anbietet, muss auch einen gewissen Anteil an digitaler Bildung übernehmen. Man könnte etwa in jedem Ortsamt einen Raum einrichten, in dem es eine Sprechstunde "Digitales" gibt. Dort wird mir zum Beispiel erklärt, wie ich online einen Pass beantrage. Und zwar kostenfrei! Und es müsste dringend flächendeckende Schulungsangebote für die Altersgruppe der über 65-Jährigen geben.
Ich frage mich auch: Wo sind die digitalen Angebote der großen Wohlfahrtsverbände für ältere Menschen? Das Netz müsste doch überquellen von Online-Veranstaltungen! Ein Jahr hatten wir jetzt Zeit, uns mit der Situation der Corona-Pandemie zu arrangieren. Aber ich sehe da nur von sehr wenigen Verbänden etwas. Dabei kann man durch Online-Veranstaltungen so viele Menschen erreichen, die nicht mehr mobil sind, die nie zu einer analogen Veranstaltung gehen könnten. Vor dem Bildschirm spielt es keine Rolle, ob jemand im Rollstuhl sitzt. Deutschland ist viel zu unkreativ beim Umgang mit der Digitalisierung im Alter.