Frankfurt a.M. (epd). Lea Nachtigall aus Unterfranken hat heute mal wieder eine Art Großkampftag zu bewältigen. Die Medizinerin arbeitet derzeit viel im Homeoffice. Während sie ihrer Arbeit nachgeht, hat sie immer ein Auge auf ihren Sohn, einen Drittklässler mit Autismus-Spektrum-Störung, der gerade von seiner Schule auf Distanz unterrichtet wird. Außerdem muss sie ihre fünf Jahre alten Zwillinge beschäftigen, denn die Kita hat pandemiebedingt zu. Und dann ist noch der Haushalt zu erledigen. "In solchen Situationen hätte ich gerne, ähnlich einer Krake, viele Arme, die alle Bedürfnisse gleichzeitig erfüllen können", sagt die 36-Jährige mit einem Seufzen. Zum Glück ist nicht jeder Tag für sie so turbulent. Morgen muss wieder Papa ran.
Nachtigalls Mann hat es nie infrage gestellt, dass Vatersein auch bedeutet, Erziehungs- und Hausarbeit zu übernehmen. "Wir teilen uns alles auf", sagt seine Frau. Dennoch gibt es einen großen Unterschied: Während das, was Lea Nachtigall tut, als normal angesehen wird, erhält ihr Mann für dieselbe Arbeit dickes Lob. "Geht er mit unseren drei Kindern auf den Spielplatz, bekommt er zu hören, wie großartig das sei, dass er so etwas macht", schildert die Ärztin. Ist sie mit ihren Kindern unterwegs, würde niemand auf die Idee kommen, ihr dafür Lob zu zollen. Frauen hätten nun mal Kinder zu betreuen. So wie sie auch "automatisch" für Pflege zuständig seien.
Hier kommt auf die Gesellschaft in Deutschland ein riesiges Problem zu: Immer mehr Ältere müssen von immer weniger Jüngeren versorgt werden. Das gehe unmöglich, wenn auch weiterhin fast nur Frauen pflegen, sagt Bodo de Vries, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Johanneswerks, eines Sozialdienstleisters aus Bielefeld. Doch bisher gelinge die Einbindung von Männern in pflegerische Sorgearbeit nur "äußerst zögerlich".
Junge Frauen seien "extrem belastet", beobachtet Helga Hinse vom Verein "Mütterforum Baden-Württemberg". Das finde sie "bedrückend". Zum Equal Care Day am 1. März fordert die fünffache Großmutter ein "Lebenszeitkonto". Damit sollten Frauen und Männer die Freiheit haben, in den zehn bis 15 Jahren, in denen sehr viel Familienarbeit zu stemmen ist, zum vollen Gehalt weniger Stunden in ihrem Beruf zu arbeiten. Und das auch "ohne Nachteile für ihre Karriere oder ihre Rente". Als Gegenleistung sollten sie erst später in Rente gehen können.
Andrea König leitet das in Nürnberg angesiedelte "forum frauen im Amt für Gemeindedienst" der evangelischen Landeskirche in Bayern. Frauen, die Kinder erziehen oder Familienmitglieder pflegen, seien bei der Rente gravierend benachteiligt, sagt die Theologin: "Brüche in der Erwerbsbiografie und fehlende Anerkennung von Pflegezeiten führen zu Lücken in der Alterssicherung." Es drohe Altersarmut.
Vor Jahrhunderten schon sei eine romantische Vorstellung zum Dogma gemacht worden, die Frauen bis heute in die Sorgearbeit hineindränge, sagt die Münchner Soziologin Maria Rerrich: Pflegen sei etwas, was jede Frau könne. Und es sei etwas, das angeblich aus Liebe geschehe - und darum nichts mit dem "schnöden Mammon" zu tun haben kann. In der Initiative "CareMachtMehr" kämpft Rerrich gegen solche Mythen an. Die Initiative fordert ein "Care Mainstreaming". Das heißt: Bei allen politischen Entscheidungen sollen die Auswirkungen auf Menschen, die Care-Tätigkeiten leisten oder die Pflege benötigen, berücksichtigt werden.
Jahrelang häuslich zu pflegen, sei im Lebensentwurf vieler Pflegender nie vorgesehen gewesen, sagt Thomas Klie von der Evangelischen Hochschule Freiburg. Die Menschen pflegten auch deshalb selbst, weil sie sich eine bedarfsdeckende, professionelle Pflege kaum leisten könnten. Der Gerontologe und Sozialexperte fordert daher, dass Pflegebedürftige Pflegedienste kostenlos in Anspruch nehmen dürfen - genauso wie Patienten einen Arzt aufsuchen, ohne für die Leistungen zu bezahlen. Auch bräuchte es ein Ersatzeinkommen für häuslich Pflegende, sagt Klie.