Frankfurt a.M. (epd). Volker Nürnberg, Professor für betriebliches Gesundheitsmanagement an der Allensbach Hochschule in Konstanz und externer Berater des Gemeinsamen Bundesausschusses, stellt zum Corona-Management in Deutschland fest: "In allen offiziellen Planungen kommt das 'Setting Betrieb' nicht vor." Der Experte hält das für fahrlässig. Dabei könnten Betriebsärzte eine entscheidende Rolle spielen, sagt er im Interview. Die Fragen stellte Dirk Baas.
epd sozial: Politik und Experten versuchen mit Hochdruck, die Zahl der Corona-Impfungen zu steigern. Doch dabei scheinen die bundesweit 12.000 Betriebsärzte keine Rolle zu spielen. Ist das so?
Volker Nürnberg: In der Tat ist in allen offiziellen Planungen das Setting "Betrieb" nicht vorgesehen. Das ist fahrlässig, weil die meisten Deutschen doch bei der Arbeit sind und wenn manche Menschen nicht zur Impfung gehen, muss ja die Impfung zu ihnen kommen. Dazu kommt, dass bei vielen Unternehmen in der Betriebsmedizin die Infrastruktur schon vorhanden ist, also Ärzte, medizinisches Personal, Räume und Logistik. Bei den Grippeschutzimpfungen hat sich das schon bewährt.
epd: Kommen die Unternehmen vielleicht erst ins Spiel, wenn die Masse der Bürger von Hausärzten geimpft werden soll?
Nürnberg: Normalerweise greifen die Werksärzte nicht in die Regelversorgung ein. Sie haben einen etwas exotischen Status, verschreiben ja beispielsweise auch keine Medikamente. Die Unternehmen sollten parallel zu den Hausärzten und niedergelassenen Ärzten aktiv werden, also nach dem jetzigen Zeitplan der Impfungen vermutlich in der zweiten Jahreshälfte. Impfzentren werden damit entlastet und neue Zielgruppen werden gezielt angesprochen.
epd: Verteilung, Lieferung, Lagerung, Kühlung - das Impfen ist ein überaus komplexer Vorgang. Könnten die Ärzte in den Unternehmen das alles gewährleisten?
Nürnberg: Das ist in der Tat der schwierigste Punkt. Aber das lässt sich organisieren. Die Firmen benötigen natürlich Unterstützung und Rechtssicherheit. Arbeitsmedizinische Dienstleister, Unternehmen aus dem betrieblichen Gesundheitsmanagement und andere können hier unterstützen. Und: Die Firmen, die mit ihren Ärztinnen und Ärzten beim Impfen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe erfüllen, müssen die Kosten erstattet bekommen, von der Haftung befreit werden und in eine sichere, ununterbrochene Lieferkette eingebunden werden.
epd: Kita-Personal soll nach langen Diskussionen jetzt doch früher geimpft werden. Die Priorisierung ist also nicht in Stein gemeißelt. Sehen Sie hier noch einen Ansatz, auch die Betriebsärzte mit einzubinden?
Nürnberg: Die aktuelle Priorisierungsdebatte kommt für die meisten Betriebsärzte zu früh. Zunächst sollten, wie von der Bundesregierung vorgesehen, die ersten beiden Prioritätsstufen geimpft werden, danach könnte aber das Rollout in den Firmen erfolgen.
epd: Also müsste die Priorisierung nicht erneut verändert werden?
Nürnberg: Nein. Die aktuelle Priorisierung der ersten beiden Gruppen ist ökonomisch und ethisch durchdacht und sollte auch nicht gekippt werden. Aber wir bieten unsere Mitarbeit für die Zeit danach an. Wir reden über den Herbst. Dann sollte man die Reihenfolge noch einmal überdenken und die mehr als 12.000 Betriebsmediziner mit einbinden.
epd: Letztlich geht es doch immer auch ums Geld. Sie fordern eine einheitliche zentrale Vergütung für Impfungen in Firmen. Es gibt bereits Pilotprojekte in Kooperation mit den Kassen. Wie funktioniert das in der Praxis?
Nürnberg: In manchen Regionen haben Verbände beziehungsweise Interessenvertretungen der Betriebsärzte mit einzelnen Krankenkassen Vereinbarungen zur Impfung und deren Vergütung geschlossen. Es wäre wünschenswert, dass es hier zu einer bundeseinheitlichen Regelung und Vergütung kommt, in die auch alle gesetzlich und privat versicherten Berufstätigen eingebunden sind.