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Corona

"Lockdown zwingt Kinder, ureigenste Bedürfnisse zu unterdrücken"



Der Corona-Lockdown mit geschlossenen Kitas und leeren Klassenzimmern schadet langfristig der Entwicklung von Kindern, sagt der Göttinger Hirnforscher Gerald Hüther im epd-Interview.

Noch bis Mitte Februar sind Kitas für den größten Teil der Kinder geschlossen, Schulklassen bleiben weitgehend leer. Der Zwang, die eigenen Sozialkontakte angesichts der Corona-Pandemie drastisch zu reduzieren, bleibt nicht ohne Folgen für die Kinder, sagt der Neurobiologe und Bildungsforscher Gerald Hüther. Er warnt auch vor langfristigen Fehlentwicklungen. Die Fragen stellte Björn Schlüter.

epd sozial: Herr Hüther, was genau verlangt der Corona-Lockdown den Jüngsten gerade ab, wenn sie nicht auf den Schulhof, ins Klassenzimmer oder in die Kita gehen können?

Gerald Hüther: Die betroffenen Kinder müssen ihre ureigensten Bedürfnisse unterdrücken, um diese Situation auszuhalten. Es kann nichts Gutes dabei herauskommen, wenn wir ihnen dauerhaft Zuwendung entziehen, weil wir neben der Aufsicht im Homeoffice arbeiten, das Spielen mit Freunden vorenthalten und die Nähe zur Oma unterbinden.

epd: Was sind denn diese "ureigensten Bedürfnisse" genau?

Hüther: Für die gesunde Entwicklung braucht ein Kind liebevolle und zugewandte Eltern, es braucht den Kontakt zu Freunden und zu gleichaltrigen Kindern. Kinder müssen raus, wollen entdecken, vielleicht mal eine Rauferei wagen und ganz sicher auch ihre Oma und ihren Opa in die Arme schließen. Das ist für sie so wichtig wie Nahrung. Außerdem wollen Kinder zeigen, dass sie was draufhaben - und sei es nur, dass sie am höchsten auf den Baum klettern können.

epd: Bis wir den Kindern das alles wieder bieten können, kann aber noch eine ganze Menge Zeit vergehen.

Hüther: Und genau da liegt die Gefahr. Je länger die Lockdown-Phase andauert, desto wahrscheinlicher bilden sich bei den Kindern hemmende Verschaltungen in den Motivationszentren. Ich selbst erlebe den Lockdown als eine relativ kurze Zeit meines Lebens, aber ich bin fast 70 Jahre alt. Aus der Sicht eines Siebenjährigen würde ein Jahr Lockdown für mich bedeuten, ich müsste mich zehn Jahre in ein Korsett aus Regeln einfügen und mich einschränken. Da entstehen langfristige Folgen der Corona-Pandemie für die Kinder. Ich weiß nicht, ob alles davon in ihrer weiteren Entwicklung wieder weggeht.

epd: Können Sie ihre Befürchtung an einem Beispiel konkret machen?

Hüther: Nehmen wir doch den Kontakt zur Oma. Das Kind war jetzt vielleicht ein halbes Jahr nicht mehr bei ihr. Nun wird der Kontakt wieder ermöglicht und was passiert? Das Kind fremdelt plötzlich mit der ihm eigentlich bisher so vertrauten Person. Vielleicht möchte das Kind auch gar nicht mehr so gerne zur Oma. Am Ende ist die Oma vielleicht keine wichtige Begleitperson mehr für den Rest des Lebens. Angesichts solcher Folgen müssen wir uns doch als Gesellschaft bei der Planung unserer selbstauferlegten Einschränkungen fragen: Wollen wir das?

epd: Dennoch scheinen viele Kinder die Situation gut zu meistern, oder ist das ein Trugschluss?

Hüther: Da sind wir wieder bei den Bedürfnissen. Letztlich fügen sich diese Kinder geräuschlos, und wir zeigen sie noch als vermeintlich gute Beispiele und brave Kinder vor. Doch wer Bedürfnisse unterdrückt, der sucht sich Ersatzbefriedigungen.

epd: Nämlich?

Hüther: Man muss es so drastisch sagen, aber aktuell werden viele Kinder sehr fett. Sie sind sich selbst überlassen, sitzen vor dem Fernseher und futtern ungesunde Snacks oder daddeln im Internet.

epd: Und die Eltern reagieren darauf nicht angemessen?

Hüther: Eltern sind ja noch in der besonderen Zwickmühle, dass sie oftmals irgendwie ihre Arbeit im Homeoffice schaffen müssen. Da bleibt aus ihrer Sicht vielleicht manchmal gar keine Wahl, als die Kinder vor dem Fernseher oder der Spielkonsole zu parken - schlechtes Gewissen inklusive.

epd: Aber wie können die Eltern dieses Hamsterrad verlassen und so langfristig ihren Kindern etwas Gutes tun?

Hüther: Die Eltern müssen liebevoll mit sich selbst umgehen. Wer das beherzigt, der stärkt sich sofort. Das heißt nicht, dass ich dafür meine Kinder wegschieben muss. Jeder sollte in sich hineinhören und sich fragen, was er gerade wirklich braucht. Daraus ergibt sich meist ein natürliches Interesse, das den Kindern gerecht wird und ihnen Aufmerksamkeit schenkt. Möchte ich jetzt etwas essen, was mir schmeckt oder nicht? Möchte ich jetzt zwingend noch eine Überstunde machen, damit das Projekt fertig wird oder will ich vielleicht zu meinem Kind, das mit mir spielen möchte? Es ist nicht gut, immer nur zu versuchen zu funktionieren.