Frankfurt a.M. (epd). Eine Perle in der Rechten und ein Kubus aus zehn mal zehn mal zehn Perlen in der Linken. Ein Leicht- und ein Schwergewicht. So lernen Montessori-Kinder die Zahl Eins von der Zahl Tausend zu unterscheiden: sinnlich, durch "Begreifen" mit den Händen. "Und das lernen sie, wenn sie wollen, schon mit vier Jahren", sagt der Diplompädagoge Rainer Völkel, der im Auftrag der Deutschen Montessori-Gesellschaft Lehrer und Erzieherinnen nach der Methode der italienischen Ärztin und Pädagogin Maria Montessori (1870-1952) ausbildet.
Vor 150 Jahren, am 31. August 1870, wurde sie in Chiaravalle nahe der italienischen Adriaküste geboren. Ihr Vater arbeitete im Finanzministerium und leitete die staatliche Tabakmanufaktur. Seinem Widerstand zum Trotz besuchte Maria Montessori eine technische Oberschule. An der Universität in Rom studierte sie zunächst Naturwissenschaften, weil ihr als Frau der Zugang zum Medizinstudium verwehrt war.
Dann öffnete sich die medizinische Fakultät doch, und Montessori konnte 1896 promovieren. Sie spezialisierte sich auf Kinderheilkunde. Als Assistenzärztin für Kinderpsychiatrie an der Universitätsklinik kümmerte sie sich vor allem um geistig beeinträchtigte Kinder. Sie kam zu der Überzeugung, dass deren "Schwachsinn" - wie es damals hieß - nicht medizinisch begründet war, sondern eine Folge verwahrloster Erziehung.
1899 übernahm sie die Leitung eines heilpädagogischen Instituts in Rom und entwickelte didaktische Materialien zum Sprach- und Mathematikunterricht. 1901 begann sie ein zweites Studium der Anthropologie, Psychologie und Erziehungsphilosophie und hielt danach Vorlesungen im Pädagogischen Institut in Rom. 1907 schließlich hatte sie ihr eigenes pädagogisches Bildungskonzept entwickelt, das dem Grundsatz folgt: "Hilf mir, es selbst zu tun." Lehrer sollen die Selbstständigkeit des Kindes fördern, indem sie es dabei unterstützen, selbst aktiv zu werden.
"Die Aufgabe der Umgebung ist es nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren": Dieser Devise folgen noch heute die Kinderhäuser und Montessori-Schulen in aller Welt. "Niemand weiß, wie viele es gibt", sagt Völkel. "Es existiert für diese Graswurzelbewegung keine Zentrale." Für die Frankfurter Anna-Schmidt-Schule etwa bedeutet die Montessori-Devise, "das Kind als Individuum in seiner emotionalen Entwicklung, seiner sozialen Kompetenz und seinen kognitiven Fähigkeiten zu beobachten, es anzuregen, zu beraten und zu fördern".
"Kinder sind Gäste, die nach dem Weg fragen", so formulierte es Montessori. Ihrer Theorie nach entwickeln sich Kinder in mehreren Stufen: Im ersten und wichtigsten Stadium bis zum sechsten Lebensjahr formten sich die Persönlichkeit und die Fähigkeiten eines Kindes. In der zweiten Phase bis zum zwölften Lebensjahr sei das Kind besonders empfänglich für Anreize aus der Umgebung. Montessori spricht von einer "Polarisation der Aufmerksamkeit", wenn das Kind in dieser sensiblen Periode eine Beschäftigung entsprechend seinen Bedürfnissen finde.
Dahinter stand ein Schlüsselerlebnis in der Kindertagesstätte Casa dei Bambini im römischen Arbeiterbezirk San Lorenzo, die sie ab 1907 wissenschaftlich leitete. Sie beobachtete ein Mädchen in völliger Versenkung mit einem Einsatzzylinder-Spiel, das sich durch nichts ablenken ließ. Aber sind solche Beobachtungen heute noch gültig? "Ja", sagt Völkel. Der Hirnforscher Manfred Spitzer nenne das "selektive Aufmerksamkeit". Neue Zeiten, neue Begriffe für dasselbe Phänomen, eine Selbstvergessenheit, die Völkel auch als "Flow" bezeichnet.
Auch Anne Frank, der kolumbianische Schriftsteller Gabriel Garcia Marquez oder Amazon-Gründer Jeff Bezos haben Montessori-Einrichtungen besucht. "Entscheidend ist das Gefühl der Zufriedenheit beim Lernen, damit sich die Persönlichkeit des Kindes entfalten kann", erläutert Völkel. "Wir wählen aus den Wissenschaften das aus, was dem Kind entspricht. Die Montessori-Schule ist eine interdisziplinäre Veranstaltung."
Erst 1916 publizierte Montessori ihr Buch "L'autoeducatione", das die Montessori-Methode begründete. Protegiert von Benito Mussolini, wurde diese 1924 an den italienischen Schulen eingeführt. Zehn Jahre später ging Montessori auf Distanz zum faschistischen Mussolini-Regime, die Methode wurde verboten.
Auf Einladung der esoterischen Theosophischen Gesellschaft reiste die Pädagogin 1939 in Begleitung ihres 1898 geborenen Sohnes Mario nach Indien. Dort wurde sie nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von den Briten als "feindliche Ausländerin" interniert. In Indien entwickelte Montessori ihr Prinzip der "Kosmischen Erziehung", nach der jeder Mensch als Teil der Schöpfung und in Wechselbeziehung mit dem Ganzen eine besondere Aufgabe zu erfüllen habe.
Erst 1949 kehrte sie endgültig nach Europa zurück und lebte bis zu ihrem Tod am 6. Mai 1952 in den Niederlanden. Sie wurde auf dem katholischen Friedhof ihres letzten Wohnorts Noordwijk aan Zee begraben. Auf ihrem Grabstein steht: "Ich bitte die lieben Kinder, die alles können, mit mir zusammen für den Aufbau des Friedens zwischen den Menschen und in der Welt zu arbeiten."