Heidelberg (epd). Ein Jäckchen aus grobem Leinen, über und über bestickt mit autobiografischen Texten: Die Näherin Agnes Richter (1844-1918) hat das Kleidungsstück 1895 angefertigt. Heute ist die gestickte Kurrentschrift außen und innen kaum mehr lesbar, das Jäckchen brüchig geworden. Während ihres Aufenthalts in einer Nervenheilanstalt hat Agnes Richter die Jacke immer weiter bestickt, gewendet und wieder zusammengenäht. Heute ist sie eines von rund 30.000 Kunstwerken der Heidelberger Sammlung Prinzhorn, einem Museum für "Kunst von Menschen mit psychischen Ausnahmeerfahrungen".
Das Haus, eine Einrichtung des Universitätsklinikums Heidelberg, ist international bekannt für seine Sammlungsgröße: Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen und Installationen aus der Zeit von 1800 bis heute, geschaffen von Psychiatrie-Erfahrenen aus ganz Europa.
Der Arzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn (1886-1933) baute nach dem Ersten Weltkrieg eine einzigartige Sammlung von Werken auf, die zwischen 1880 und 1920 entstanden. Heute will die Sammlung Prinzhorn Kunst bewahren und erforschen sowie zur Entstigmatisierung und gesellschaftlichen Inklusion von Psychiatrie-Erfahrenen beitragen.
Prinzhorn verfasste 1922 das Buch "Bildnerei der Geisteskranken" und gilt als Pionier einer ästhetischen Wertschätzung von "Irrenkunst", wie es damals hieß. Die von ihm untersuchten Werke bezeichnete er als "ursprünglich" und "echt".
Als erster habe er die Patienten nicht nur als Kranke, sondern auch als Künstler gesehen, erläutert Kuratorin Ingrid von Beyme beim Museumsrundgang. Doch nicht immer stieß die Kunstbegeisterung von Patienten auf Zustimmung oder Begeisterung von Ärzten, wie etwa folgender Kommentar über einen Patienten zeigt: "Malt ständig auf Toilettenpapier". In der Zeit um 1900 sei dies als schlichtes Gekritzel abgetan worden, erklärt von Beyme. Von Surrealisten und Expressionisten allerdings wurde das künstlerische Schaffen psychisch Kranker als Inspiration aufgegriffen.
Heute werden Werke, die von Menschen mit psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung geschaffen werden, als "Art brut" (rohe Kunst) oder "Outsider Art" (Außenseiterkunst) bezeichnet. Oft sehen die Schöpfer ihre Werke selbst nicht als Kunst an, sagt der Leiter der Sammlung, Thomas Röske. Der unablässige künstlerische Prozess habe für sie die Funktion einer alternativen Verbindung zur Realität.
Besonders schlecht ging es Frauen, die im 19. Jahrhundert in damals so genannte "Irrenanstalten" eingeliefert wurden. Manche waren gar nicht krank, sondern einfach nur unangepasst und entsprachen den Erwartungen ihrer Umgebung nicht. Oft wurden sie entmündigt und ihrer Privatheit und Individualität beraubt. Sie verbrachten ihre Tage mit Tätigkeiten wie Sticken oder Nähen.
Die Materialien zur eigenen, künstlerischen Ausdrucksweise waren rar. Sie waren angewiesen auf Zeitungs- oder Packpapier und erbettelte Arzststifte. Oder sie verwendeten gar das eigene Blut oder Kopfhaar: Mit ihren braunen Haaren statt mit Garn stickte etwa Elisa K. ein Porträt ihres Geliebten.
Kunst diente hier als eine Art Selbstheilungsversuch - zu einer Zeit, als es noch keine Kunsttherapie gab, sagt Kuratorin Ingrid von Beyme. Die Kunstwerke wurden von Medizinern in den Krankenakten aufgehoben, um später vielleicht einen Schlüssel zu der Krankheit zu finden. Anders als heute habe es damals keine Psychopharmaka gegeben, viele Menschen wurden einfach lebenslang weggesperrt.
Die Zwangssterilisation in der NS-Zeit hat Wilhelm Werner aus Patientensicht gezeichnet: eine überdimensionierte Diakonisse mit Spritze. 44 Zeichnungen des jungen Mannes mit der Diagnose "Idiotie" sind erhalten. Er starb in der Gaskammer.
Was Vision, was Wahnvorstellung der Patienten sei, das sei ein Graubereich, sagt von Beyme. Da sind etwa die "Schweißbilder" von Carl Lange, entstanden um 1900: Die aneinandergereihten Zeichnungen in halbrunden Bildfeldern stellen Schuheinlegesohlen dar. Zuvor hatte er die Bilder als Schweißflecken in seinen Schuhen gesehen. Sie erschienen ihm so real, dass er sie nachzeichnete, erzählt die Kuratorin.
Zu den ungewöhnlichen Werken der Sammlung gehört etwa ein 260 Zentimeter langes Collageband, von "Frau St.", zusammengesetzt aus unbedruckten Randspalten der Zeitung. Darauf malte und zeichnete sie mit Bleistift, Buntstiften, Deckfarben und Tinte verschiedene Muster und klebte zudem kleine Bildelemente aus Zeitungsausgaben von 1890/91- zu einer Zeit, als die Kunstwelt die Collagetechnik noch gar nicht entdeckt hatte.